Impfungen sind eines der wichtigsten medizinischen Mittel, die die Menschheit hervorgebracht hat. In den Medizingeschichtsbüchern beginnt die Geschichte des Impfens oft im 18. Jahrhundert in England, als Edward Jenner 1796 erstmals einen kleinen Jungen mit Kuhpocken impfte. Doch die Impfgeschichte beginnt schon sehr viel früher.
Bevor es Impfungen gab, bedeuteten Krankheiten wie die Pocken oft das Todesurteil – bis, so wird es meist erzählt, der britische Landarzt Edward Jenner 1796 einem Kind Kuhpocken in den Arm piekste, und so die Pockenschutzimpfung erfand. Allerdings: Lange bevor in der westlichen Welt über Impfungen überhaupt nachgedacht wurde, waren ähnliche Methoden schon lange in Afrika und Asien verbreitet.
"Jenner hätte seine Kuhpocken-Impfung niemals entwickeln können, wenn nicht vorher die Variolation existiert hätte. Dieses Konzept der Immunisierung durch Impfung musste in der westlichen Medizin erst ankommen."
Der Hamburger Medizinhistoriker Philipp Osten ist vor einigen Jahren auf eine spannende Person in der Impfgeschichte aufmerksam geworden: Onesimus, ein junger Mann, der vermutlich aus dem heutigen Ghana stammte, im Jahr 1706 versklavt und nach Nordamerika verschleppt wurde und das Wissen um Pockenimpfungen nach Nordamerika gebracht haben soll.
Viel ist über den Mann nicht bekannt, musste der Historiker feststellen, denn die Quellenlage ist mehr als dünn. Nicht mal sein richtiger Name ist überliefert – Onesimus wurde er nämlich erst von seinem "Besitzer" genannt, dem puritanischen Prediger Cotton Mather aus Boston. Der hat aber immerhin eine spannende Begebenheit aufgeschrieben: Onesimus berichtete ihm nämlich von einer Methode, sich vor den tödlichen Pocken zu schützen.
Viele afrikanische Sklaven waren gegen Pocken geimpft
Die Hafenstadt Boston war damals schon von mehreren Pockenwellen heimgesucht worden, erzählt Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Katrin Ohlendorf, viele Menschen waren gestorben. Cotton Mather fragte Onesimus, ob der die Pocken schon gehabt habe, und bekam eine seltsame Antwort: "Ja und nein".
Onesimus hatte sie gehabt, aber nur milde – und voll beabsichtigt. Er erzählte Mather von einer Methode, die er aus seiner Heimat kannte: Dabei wurde gesunden Menschen der Inhalt einer Pockenblase von Erkrankten mit einem Dorn unter die Haut geritzt.
Die so Behandelte wurden dann isoliert und entwickelten – meistens jedenfalls – eine ganz schwache Form der Pocken. Danach waren sie immun dagegen. Inokulation nannte man diese Technik, heute bezeichnet man sie als Variolation, nach dem lateinischen Namen für die Pocken: "Variola".
Impftechniken sind schon Jahrhunderte bekannt
Nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent, auch in Asien waren solche Methoden schon bekannt, teilweise seit Jahrhunderten. Aus Indien und China zum Beispiel gibt es auch bildliche Darstellungen von solchen Impftechniken.
"Es gibt auch Überlieferungen aus China: Dort wurde mit einem Stäbchen die Pockenlymphe in das Nasenloch eingebracht und auf diese Art und Weise geimpft."
Cotton Mather schrieb an die Royal Society und berichtete von dem, was Onesimus ihm erzählt hatte. Etwa zeitgleich versuchte auch die Frau des damaligen britischen Botschafters in Konstantinopel, Lady Montagu, in der westlichen Welt Werbung für solche Impfungen zu machen. Sie hatte die Behandlung in der heutigen Türkei beobachtet.
Anfangs kein Vertrauen in Variolation
Anfangs gab es gegen die Variolation aber noch große Bedenken. Selbst, als die Pocken in Boston 1721 wieder ausbrachen, konnte Cotton Mather zunächst niemanden von dem Verfahren überzeugen. Die Bostoner wollten sich keiner Prozedur unterziehen, die von Sklaven stammte, erklärt Philipp Osten einen der Gründe.
Schließlich aber fand Mather doch noch einen Verbündeten: Der Arzt Zabdiel Boylston impfte zuerst seine Sklaven, dann seine Kinder und später mehr als 200 weitere Bostoner. Er berichtete später: Nur zwei Prozent seiner Patienten seien während der Epidemie gestorben, unter den Ungeimpften waren es 14 Prozent.
"Das Licht von Jenner ist sehr viel heller als das Licht der anderen Beiträge aus den Jahrhunderten oder aus anderen Kulturen."
Das Impfexperiment von Edward Jenner fand erst ein Dreiviertel-Jahrhundert später statt – und markiert trotzdem in den meisten Geschichtsbüchern den Anfang der Impfhistorie. Noch heute steht der Begriff Vakzination für Impfung - nach dem lateinischen Wort "vacca" für Kuh. Onesimus Geschichte, oder die der vielen anderen, die schon vorher um solche Praktiken wussten, taucht in Medizingeschichtsbüchern kaum auf, sagt Katrin Ohlendorf.
Erste Impfung mit anderen Erregern
Das hat zum Teil auch fachliche Gründe, meint die Hamburger Infektiologin Marylyn Addo. Denn: Jenner war der erste, der andere Erreger einer verwandten Infektion impfte. Während das Impfen mit Menschenpocken sehr gefährlich war, war die Impfung mit Kuhpocken viel sicherer und wirkte trotzdem. Diese Erkenntnis hat das Impfen auf ein neues Level gehoben, so Addo.
"Die Ideengeschichte ist auch eine Geschichte von Migration, von Kriegen, von Deutungsmacht. Viele unterschiedliche Methoden existieren in der Medizin nebeneinander. Und sie sind beileibe nicht nur von weißen männlichen Ärzten entwickelt worden."
Trotzdem finden sowohl Marylyn Addo als auch Philipp Osten: Onesimus ist ein Beispiel für viele andere, die in Geschichtserzählungen keine Stimme gefunden haben.