Ginge es nach Bundeskanzler Friedrich Merz, sollten wir mehr arbeiten, um die deutsche Wirtschaft und unseren Wohlstand zu retten. Auch Unternehmerin Christine Simon meint: Wir sollten mehr anpacken. Aber: Bedeutet mehr Arbeit wirklich mehr Wohlstand?
Bundeskanzler Friedrich Merz kritisiert die Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance. "Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte er in seiner ersten Regierungserklärung. Unterm Strich sollen wir also mehr ranklotzen, um die deutsche Wirtschaft wieder zu stabilisieren – so seine kontroverse Devise, die eine Debatte über Arbeitszeit in Deutschland ausgelöst hat.
Angeheizt wird die Diskussion durch die jüngste Konjunkturprognose der Wirtschaftsweisen: Ihre Prognose für 2025 haben sie abgesenkt und gehen nun von einem Null-Wachstum aus. Die Wirtschaftsflaute hält demzufolge an.
„Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“
Auch die Unternehmerin Christine Simon sieht ein Problem in einer nachlassenden Arbeitsmoral der Deutschen. Bevor sie Mutter wurde, waren Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage keine Seltenheit für die Unternehmerin, erzählt sie im Unboxing-News-Interview. Sie führt die Firma, die einst ihr Großvater mitbegründet hat. In schwierigen Zeiten hätten auch die Ehefrauen nachts mitgearbeitet, um das Unternehmen zu retten, berichtet sie.
Aus ihrer Sicht gilt es, Arbeitszeit flexibler zu gestalten, sodass auch Mehrarbeit, zum Beispiel an Wochenenden, auch rechtlich leichter umgesetzt werden kann. Die Unternehmerin ist überzeugt davon, dass Deutschland ansonsten wirtschaftlich von anderen Nationen abgehängt wird.
"Im Moment ist mein Eindruck, dass viele Menschen sehr satt sind. Um diesen Wohlstand zu erhalten, müssen wir weiter dranbleiben, weil wir sonst abgehängt werden."
Eine aktuelle Berechnung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) scheint diese Sichtweise zu unterstützen: Deutsche arbeiten demnach deutlich weniger als Menschen in anderen Ländern. Laut der Untersuchung arbeiten wir beispielsweise pro Jahr 135 Stunden weniger als die Menschen in Griechenland. Im Vergleich aller OECD-Länder belegen wir demnach mit unserer Arbeitszeit nur den drittletzten Platz. Aber was sagt das wirklich aus?
Im Schnitt arbeiten wir weniger, das Arbeitsvolumen steigt aber
Birgid Becker aus der DLF-Wirtschaftsredaktion ordnet die Zahlen ein: Auf den ersten Blick geben sie Friedrich Merz recht, sagt sie. Denn im Schnitt arbeiten wir in Deutschland individuell tatsächlich seit ein paar Jahren weniger. Betrachtet man aber alle Arbeit, die in unserer Volkswirtschaft geleistet wird, dann steigt dieses Arbeitsvolumen an, erklärt sie – insofern stimmt seine Aussage in Teilen eben nicht.
Das hat zwei Gründe: Zum einen arbeiten immer mehr Menschen hierzulande in Teilzeit. Das allerdings hängt auch damit zusammen, dass die Kinderbetreuung in Deutschland nicht überall gut organisiert ist und viele Eltern keinem Vollzeitjob nachgehen können - ob sie wollen oder nicht. Zum anderen steigt die Zahl der Erwerbstätigen, ergänzt Birgid Becker. Also: "Die Arbeit wird getan und sie verteilt sich auf immer mehr Schultern."
Vergleich hinkt: Arbeit ist nicht gleich Arbeit
Zudem erklärt, Birgid Becker, schafft mehr Arbeit nicht automatisch mehr Wohlstand. In einem Land, das wenig entwickelt und vorwiegend landwirtschaftlich strukturiert ist, können die Menschen zwar viel arbeiten, trotzdem aber sind die Produktivitätszahlen niedrig und der Wohlstand gering.
In einem Land wie Deutschland hingegen, dass hoch technisiert ist, gibt es viele effiziente und produktive Arbeitsplätze. Heißt: "Da können theoretisch relativ wenige Menschen mit relativ hoher Wertschöpfung in wenig Zeit viel Wohlstand schaffen."
Statistik sagt nichts über Arbeitsmoral aus
In einem Land wie Griechenland arbeiten die Menschen, was die rein statistisch erfasste Wochenarbeitszeit angeht, tatsächlich länger, erklärt die Wirtschaftsjournalistin. Allerdings gibt es auch hier ein Aber: Griechenland hat nämlich eine deutlich geringere Teilzeitquote als deutschland. Die Statistik sagt also nichts über Fleiß oder Faulheit aus.
"Friedrich Merz setzt auf eine bewusst 'anti-woke' Rhetorik."
Die Arbeitnehmenden in Deutschland leisten zum Beispiel sehr viele Überstunden, ergänzt sie: weit mehr als eine Milliarde. Das entspricht 750.000 Vollzeitstellen, rechnet Birgid Becker vor und ergänzt: Rund die Hälfte davon arbeiten wir auch noch unbezahlt. Dass die Deutschen eine andere – sprich: schlechtere – Arbeitsmoral haben, was Friedrich Merz impliziert, das geben die Zahlen also nicht her, sagt sie.
"Wir könnten noch so viel arbeiten, wir würden an der US-Zollpolitik nichts ändern. Die Wirtschaftsweisen haben gesagt, das ist der Hauptgrund dafür, dass die Konjunkturprognose gesenkt wurde."
Die Wirtschaftsjournalistin ordnet auch die Konjunkturprognose der Wirtschaftsweisen ein: Die stellen das Stagnieren der deutschen Wirtschaft nicht mit zu wenig Arbeit der Menschen in Deutschland in Zusammenhang, sondern mit den US-Wirtschaftszöllen. Durch Mehrarbeit könnte man daran gar nichts ändern, sagt Birgid Becker.
Was sollte die Politik also tun? Im Unboxing-Gespräch erklärt Birgid Becker, warum Arbeitszeit allein nicht die Lösung ist und welche Rolle etwa Fachkräfte, Kita-Plätze, Pflege oder Zuwanderung spielen. Um die ganze Folge zu hören, klickt oben auf Play.
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