Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind Zeugnisvermerke bei Schülern mit Legasthenie zulässig. Das müsse aber auch für andere Fälle gelten. Geklagt hatten drei Abiturienten aus Bayern, weil es bei Schüler*innen mit anderen Behinderungen keine Zeugnisvermerke gab.

In Deutschland leben etwa 3,5 Millionen Menschen mit Legasthenie – also mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche. Dazu gehören auch die drei Abiturienten aus Bayern, die jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht Recht bekommen haben.

Konkreter Fall aus dem Jahr 2010

In ihrem konkreten Fall aus dem Jahr 2010 war es so, dass Legasthenikerinnen und Legastheniker damals einen Antrag stellen konnten. Darin stand: "Ich will, dass meine Rechtschreibung im Abitur nicht bewertet wird." Das haben die drei Schüler damals auch gemacht. Im Zeugnis hatten sie einen entsprechenden Vermerk stehen.

Bisher kein Vermerk bei anderen Behinderungen

Allerdings war es bisher so, dass es bei Menschen mit anderen Behinderungen keinen Vermerk gab – etwa wenn jemand schlecht sehen kann oder taub ist. Und genau das geht laut Urteil nicht.

"Das geht nicht, dass man nur die Legastheniker vermerkt. Wenn, dann muss das für jede Art von Behinderung gelten, die irgendwie im Abiturzeugnis berücksichtigt wird."
Gigi Deppe, ARD-Studio Recht und Justiz in Karlsruhe

Für die drei Abiturienten bedeutet das, dass die Vermerke in ihren Zeugnissen gelöscht werden. Und genau das wollten sie mit ihrer Klage auch erreichen. Sie hatten nämlich befürchtet, durch den Vermerk Nachteile auf dem Arbeitsmarkt zu haben.

Gericht: Rücksichtnahme muss gekennzeichnet sein

Die Verfassungsrichterinnen und -richter sagen aber auch: Es muss eigentlich im Zeugnis vermerkt werden, wenn es irgendeine Form von Rücksichtnahme gab. In den Bundesländern wird das bislang unterschiedlich gehandhabt. Doch das wird sich jetzt wohl ändern.

"Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft jetzt immer vermerkt wird im Abiturzeugnis, wenn irgendwie Rücksicht genommen wurde auf eine bestimmte Behinderung."
Gigi Deppe, ARD-Studio Recht und Justiz in Karlsruhe

Das bedeutet: Die Landesministerien sind jetzt verpflichtet, Regelungen zu schaffen. In Bayern gibt es beispielsweise schon eine lange Liste in der Schulverordnung, was alles vermerkt werden kann – darunter Autismus und andere Beeinträchtigungen. Das wird vermutlich jetzt auch in anderen Bundesländern Praxis werden.

BVerfG: Legasthenie ist eine Behinderung

Legasthenie ist der Weltgesundheitsorganisation zufolge eine Entwicklungsstörung, die nichts mit verminderter Intelligenz zu tun hat. Betroffene lesen deutlich schlechter und langsamer als andere Menschen, außerdem machen sie oft mehr Fehler bei der Rechtschreibung. Das Bundesverfassungsgericht betonte nun, dass Legasthenie eine Behinderung ist. Sie beruhe auf einer messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung, halte meist lebenslang an und schränke Betroffene ein.

Gemischte Reaktionen auf Urteil

Aus dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie kamen nach dem Urteil unterschiedliche Reaktionen. Einerseits herrschte Enttäuschung darüber, dass die Zeugnishinweise nicht verboten wurden, wie die Bundesvorsitzende Tanja Scherle in Karlsruhe sagte. Andererseits waren Betroffene erleichtert, dass das Gericht Legasthenie ausdrücklich als Behinderung anerkannte. "Gerade dieser Punkt ist eine wichtige Feststellung", sagte Anton Tartz, der sich beim Selbsthilfeverband Junge Aktive des Bundesverbands engagiert.

Shownotes
Bundesverfassungsgericht
Legasthenie darf auf Zeugnis vermerkt werden
vom 22. November 2023
Moderator: 
Nik Potthoff
Gesprächspartnerin: 
Gigi Deppe, ARD-Studio Recht und Justiz in Karlsruhe