Eine junge Frau bringt die Asche ihrer Mutter nach Sibirien, um sie in ihrer Heimatstadt Ust-Ilimsk zu bestatten. Der Roman "Die Wunde" von Oxana Wassjakina ist eine Reise durch die harte postsowjetische Realität und zugleich eine Suche nach der Herkunft und Identität der Ich-Erzählerin.

Irgendwann werde ich schlafen. Und träumen. Die Nacht wird enden, ein neuer Tag beginnen, und dann noch einer, viele Tage, viele Wochen, Monate, Jahre.

Und irgendwann, wenn ich längst erwachsen bin, werde ich einmal nicht gut einschlafen können. Ich werde mich an Mamas Berührungen erinnern, und sie vermissen. Dann werde ich mich zu meiner Frau drehen, und sie bitten, mir eine Weile über den Rücken zu streicheln, die Haut zu klopfen und zu zwicken.

Natürlich weiß ich das jetzt noch nicht. Aber ich kann es mir vorstellen. Ich kann mir vorstellen, wie schön es sein muss, immer so wie gerade eben von Mama in den Schlaf gestreichelt zu werden. Auch dann, wenn Mama nicht mehr da ist. Und auch das weiß ich. Mama wird mich verlassen. Irgendwann.

Ist das wirklich die Asche der Mutter?

Dieser zärtliche Moment zwischen Mutter und Tochter, zwischen Tag und Nacht ist nur einer von vielen in dem gleichsam poetisch und nüchtern erzählten Debütroman "Die Wunde" von Oxana Wassjakina.

Darin erinnert sich eine junge Frau an ihre Mutter. Sie erinnert sich, während sie auf der Rückbank eines Autos sitzt, das zu einem Krematorium fährt. Zwischen den Knien der jungen Frau klemmt eine Urne. Sie auf den Boden des Wagens zu stellen, scheint ihr unpassend.

Aber das ovale Gefäß die ganze Fahrt über auf dem Schoß zu halten, ist unbequem. Also hält sie die Urne mit den Beinen fest und sieht aus dem Fenster. Sie liebt es, unterwegs zu sein. Dann ist alles in Bewegung und in ihr selbst in Ruhe. Normalerweise. An diesem Tag nicht.

Ihre Gedanken überschlagen sich. Erinnerungen laufen mit Beobachtungen und Gefühlen um die Wette. Wer ist zuerst da, wer bleibt am längsten, wer ist schneller wieder weg? Gedanken, wie: Woher soll man wissen, ob da wirklich die Asche der eigenen Mutter drin ist, und nicht die von einem Fremden? Kann man das spüren? Vermutlich nicht. Obwohl man eine Menge spürt.

Zum Beispiel, dass man anders ist. Oder, dass man einsam ist. Oder: lesbisch. Wer sie mit dem bösen Blick belegt hätte, hat die Mutter sie gefragt, als sie ihr gesagt hat, dass sie lesbisch und mit Katja zusammen sei. Dieses Erinnern tut weh. Was hilft gegen den Schmerz? Vielleicht das Schreiben von Gedichten. Vielleicht eine Reise nach Sibirien, nach Hause.

Das Buch:

"Die Wunde" (OT: "Рана", 2021) von Oxana Wassjakina, aus dem Russischen übersetzt von Maria Rajer, 300 Seiten.

Shownotes
Das perfekte Buch für den Moment…
…wenn du deine Mutter vermisst
vom 14. Mai 2023
Autorin: 
Lydia Herms, Deutschlandfunk Nova