Antonia war 14, als sie magersüchtig wurde. Drei Mal wurde sie deshalb in der Klinik behandelt. Antonia ist keine Ausnahme. Die Hälfte aller, die wegen einer Essstörung ins Krankenhaus kommen, sind gerade mal zwischen zehn und 17 Jahren alt.
"Es fühlte sich an, als würde ich quasi hinter einer Scheibe stehen und auf das Leben gucken. Ich kann es zwar sehen, aber irgendwie nicht richtig daran teilnehmen." So beschreibt Antonia, wie sich ihre Magersucht angefühlt hat. Diese Scheibe, die sie von der Welt abgekoppelt hat, tauchte in ihrem Leben auf, als sie 14 war. Heute ist sie 26.
Vom Abnehmen zur Essstörung
Damals war sie laut eigener Aussage "laut und schnell", körperlich schlank, aber nicht zerbrechlich. "Mir wurde oft gesagt, dass ich temperamentvoll bin", erinnert sie sich. Das passte aus ihrer Sicht nicht zu dem Bild, wie ein Mädchen sein sollte. Als sie sich in einen Jungen verliebte, der eine kleinere und dünnere Mitschülerin gut fand, kam ihr das erste Mal der Gedanke, abzunehmen. Also begann sie weniger zu essen.
"Mir ging es nie um ein bestimmtes Schönheitsideal, sondern wirklich um das Zerbrechliche. Ich wollte immer, dass ein Mann das Gefühl hat, auf mich aufpassen zu müssen."
Körperliche Schwäche und soziale Isolation
Die körperlichen Folgen traten schnell ein. Ihr war ständig kalt, erzählt sie, und Kraft hatte sie auch nicht. "Es gab Tage, da fiel es mir sogar schwer, die Treppe hinaufzugehen." Doch mindestens genauso gravierend seien die sozialen Auswirkungen gewesen. Darüber spricht man im Zusammenhang mit der Erkrankung noch viel zu wenig, findet Antonia. "Irgendwann hat man mit Gleichaltrigen nichts mehr gemeinsam", sagt Antonia. Während andere über Partys, Alkohol oder erste Beziehungen sprachen, sei ihr das alles fremd gewesen.
Für sie wurde die Essstörung auch zu einem Schutzmechanismus. Später erhielt sie zusätzlich die Diagnosen ADHS und Borderline – beides Störungen, die mit sehr intensiven Gefühlen einhergehen. "Ich konnte diese Gefühle oft nicht aushalten und habe mich mit dem Essen betäubt. Es war wie eine Tablette, die alles dumpf macht."
Antonia betont, dass ihre Magersucht eine Folge tief liegender Probleme war. "Ich war vorher schon instabil. Ohne diese Probleme wäre ich vielleicht nicht in die Magersucht hineingerutscht." Bei anderen könne das ganz anders aussehen.
Immer mehr junge Mädchen haben starke Essstörung
Statistisch zeigt sich deutlich: Die Zahl der 10- bis 17-jährigen Mädchen, die wegen einer Essstörung ins Krankenhaus müssen, hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts: von rund 3.000 im Jahr 2003 auf 6.000 im Jahr 2023. Das Alter hat sich insgesamt verschoben – die Patientinnen sind deutlich jünger geworden. In den meisten Fällen handelt es sich um Magersucht, also Anorexie, gefolgt von Bulimie, also einer Ess-Brech-Sucht.
"Ich habe bereits Siebenjährige mit dem Vollbild einer Anorexie gesehen."
Katrin Gramatke ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Dresden. Sie arbeitet seit 26 Jahren mit Betroffenen. In den vergangenen zwanzig Jahren, sagt sie, habe sich außerdem verändert:
- Immer mehr Jungen und Männer entwickeln schwere Essstörungen.
- Die Komplexität der Erkrankung hat zugenommen.
- Essstörungen werden inzwischen häufiger erkannt.
- Risikofaktoren wie das westliche Schönheitsideal sind stärker geworden.
- Es gibt einen übermäßigen Fokus auf Ernährung.
"Es gibt Kita-Kinder, die Angst vor einem zu großen Bauch haben."
Besonders problematisch sei, dass das Thema wenig Gewicht und gesunde Ernährung immer öfter in Kombination auftauchen, meint die Psychotherapeutin. Auch Social Media spiele eine enorme Rolle. Ungesunde Vorbilder und Inhalte, die extremes Schlanksein verherrlichen, könnten gerade in der Pubertät gefährlich sein. "Ich persönlich wäre für eine Altersgrenze von 16 Jahren für Social Media. Ungefilterter Zugang hat aus meiner Sicht einen sehr ungünstigen Einfluss."
Prävention und gesellschaftliche Verantwortung
Angesichts dieser Entwicklung steht für Katrin Gramatke fest, dass sich einiges in unserer Gesellschaft ändern muss. Es gehe darum, die in sozialen und analogen Medien propagierten Schönheitsideale zumindest kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Außerdem müsse Kindern möglichst früh vermittelt werden, wie sie einen gesunden Selbstwert entwickeln und ihre Emotionen regulieren können.
"Wir müssen Kinder und Jugendliche besser vor unrealistischen Körperbildern schützen. Fernsehsendungen wie Germany's Top Model fördern solche Ideale."
Antonias Weg zu einer Identität ohne Magersucht
Antonia war aufgrund ihrer Erkrankung drei Mal in der Klinik. Bei den ersten beiden Malen wurde hauptsächlich ihre Essstörung behandelt, beim dritten Mal lag der Fokus auf ihrer Depression. Das sei der Wendepunkt gewesen, erzählt sie. "Ich hatte das Gefühl, endlich als Person gesehen zu werden. Von da an ging es mir besser."
"Die Magersucht hatte für mich jahrelang eine Identität geschaffen. Nun musste ich mir eine neue schaffen."
Antonia lernte, sich neue Ziele zu setzen und eine Identität jenseits der Essstörung aufzubauen. Schritt für Schritt – mit Rückschlägen – baute sie sich ein Leben ohne Essstörung auf. Heute sagt sie: "Ich bin davon geheilt." Expert*innen wie Katrin Gramatke fordern, Prävention und Medienkompetenz stärker zu fördern, denn hinter jeder Zahl in der Statistik steckt ein Schicksal wie das von Antonia. Und der Weg zurück ist lang.
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