Als Mutter Martina ihr drittes Kind auf die Welt bringt, wird sie von vielen bemitleidet. Denn Marian hat das Down-Syndrom. Die Familie Mewes sieht die Sache anders. Marian ist eine Bereicherung. Er sorgt nämlich dafür, dass die Familie wieder näher zusammenrückt. Mit Marian kann man vielleicht keine abstrakten Themen besprechen. Aber er zeigt der Familie, was wirklich zählt im Leben. Deswegen kämpft die Familie für Marian und andere Menschen mit Down-Syndrom: Mutter Martina, indem sie Integration an der Hauptschule in ihrem Heimatort möglich macht. Die große Schwester Tabea, indem sie ihren Blog Not Just Down schreibt.

Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Außerdem weichen die gesprochenen Worte manchmal vom Skript ab. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.

Tabea: Mari, gehen wir gleich was essen? Mama hat in der Küche ein Menu aufgefahren, das glaubste gar nicht.

Das ist Tabea, 28 Jahre alt und gerade - wie alle anderen auch – super hungrig, das Mittagessen war ausgefallen. Das Problem jetzt, es geht nicht voran, weil ihr Bruder, Marian und ich, wir spielen gerade an der Konsole, ein Ballerspiel.

Tabea: Ja, da steht er gerade total drauf, auf GTA.

Wir spielen nämlich gerade Grand Theft Auto. Unser Charakter heißt Michael.

Reporter: Ist der gut oder böse?

Mari: Gut.

Tabea: Manchmal macht der auch so "Mios dios", das sagt der dann immer, ne?

Mari: Jaja. 

Bis dahin hatte ich keinen Schimmer, wie GTA funktioniert. Jetzt kann ich immerhin sagen, ich bin mit dem Wagen um drei oder vier Blocks gekurvt, habe zwei, drei Leute abgeknallt. Guter Schnitt für einen Nachmittag. Hat mir Mari gezeigt, aber jetzt ist die Zeit rum.

Tabea: Na los, komm essen.

"Hier, dieser Tisch. Den hat ein Freund für uns gebaut. Der sagte damals, euer alter Tisch, da wackelt alles, ihr braucht einen echten Tisch. Auf dem kannste Tanzen. Dieser Tisch, der hat so viel mitgekriegt. Dieses gemeinsame Essen, das spiegelt uns wieder."
Mutter Martina über den Ort, an dem die Familie zusammen kommt.

Tabea: Mari, du hast den Frischkäse gleich aufgebraucht.

Matthias: Isst du den auf?

Tabea: Das ist Dein Privatdöschen, wie?

Matthias: Teilt ihr Euch das?

Ja, kann man sagen. Mari nimmt sich was, und schiebt den zu mir. Ich nehm mir was und dann wieder zurück. Sieben-, achtmal geht das so. Zwischendurch ein Blick, der so viel sagt wie, „ziemlich lecker, oder?“. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir ein Frischkäse so dabei geholfen, dass ich entspanne. Denn bis ungefähr dahin hatte ich – wird mir jetzt klar – ein mulmiges Gefühl im Bauch. Das war der Wunsch, mit Mari gut auszukommen, zusammen mit der Unsicherheit, wie ich das anstellen soll. Mari hat Trisomie 21. Kein Gendefekt, eine Genvariante. Bei Mari kommt dazu: er hat eine Lernschwäche und spricht nicht flüssig. Aber für mich ist Sprechen eigentlich der erste Weg. Und wenn das nicht geht, dann bin ich erst Mal aufgeschmissen.

Der jüngste Sohn hat das Down-Syndrom

Die Mama, die das Menu aufgefahren hat, heißt Martina, es gibt frisches Brot vom Bäcker, dazu milden Camembert, und Bergkäse, und Kritharaki-Salat, mit diesen griechischen Reisnudeln, frischen Tomaten, Gurken und Gartenkräutern, und es gibt Tee. Wunderbar.

Martina: Stephan fragte gerade, wo seid ihr, wenn ihr Familie seid. Und dann sagte ich, hier, dieser Tisch. Den hat ein Freund für uns gebaut. Der sagte damals, euer alter Tisch, da wackelt alles, ihr braucht einen echten Tisch. Auf dem kannste Tanzen. Dieser Tisch, der hat so viel mitgekriegt. Dieses gemeinsame Essen, das spiegelt uns wieder.

Mit am Tisch sitzt der Vater, Matthias, und direkt neben mir sitzt Marian, oder Mari. Wenn er jemanden o.k. findet, darf der auch Mari zu ihm sagen: Ich darf das. Zwischen Mari und mir auf dem Tisch, steht ein kleines Schälchen Frischkäse Natur, mit Meersalz. Es gibt hundert Sachen aber richtig perfekt ist dies frische Brot mit dem einfachen Meersalz-Frischkäse.  

"Ich fühle mich nirgendwo so warm umarmt, wie wenn ich mit Mari zusammen bin."
Marians große Schwester Tabea über ihren kleinen Bruder.
Tabea, Marian und Tillmann Mewes
© Tabea Mewes
Die Geschwister Tabea, Marian und Tillmann Mewes halten zusammen - von Anfang an.

Dass es dann so gut mit mir und Mari klappt, dass diese ganzen Bedenken nach ein paar Minuten lächerlich wirken, das macht Mari. Ganz simpel, er gibt mir das Gefühl , ganz selbstverständlich dazuzugehören. Mit jedem Frischkäse-Herüberschieben.. Guter Draht, auch ohne Worte. 

Tabea: Bei Mari und in der Beziehung, die man mit Mari hat, fallen bestimmte Dinge, die man als total wichtig in der menschlichen Beziehung beschreiben würde, möglicherweise weg. Zum Beispiel: Über Gott und die Welt sprechen. Und uns alle verbindet, etwas viel unsichtbareres, was für mich fast schon wertvoller ist, weil ich fühle mich nirgendwo so warm umarmt, als wenn ich mit Mari zusammen bin. 

Als  Mari mit dem Abendessen fertig ist, steht er auf, ganz langsam, geht zu seinem Papa und umarmt ihn von hinten, ganz sanft.

Tabea: Kommst du auch mal zu mir? Ich will auch mal kuscheln. Der wollte Dir gerade ins Öhrchen beißen.

Matthias: Du musst mir nicht hier heiße Ohren machen.

Martina: Tabea will auch heiße Ohren.

Tabea: Du bist gemein.

Matthias: Nur Popi.

Die Atmosphäre bei den Mewes: Heile Familie

Bei diesem Abendessen fällt mir auf, was die hinbekommen haben. Eine unheimlich warme, ja, im besten Sinne schöne und heile Familien-Atmosphäre. Mir kommt ein Satz in den Kopf, hat einer dieser alten Liedermacher mal gesagt: „Je kaputter die Welt draußen, desto heiler muss sie zu Hause sein.“ Und das haben die hingekriegt. Trotz der Tatsache, oder gerade weil sie das andere Extrem kennen. Weil ihre Familie schon einmal fast zerbrochen wäre. Kurz bevor Martina auf einmal hört, dass sie zum dritten Mal schwanger ist.

Martina: Das war überhaupt nicht geplant. Und ich erzähl Dir jetzt etwas und du magst sagen, die hat nen Lattenschuss, die Frau, ich bin zu meiner Frauenärztin gegangen die ich noch von früher kannte, nach Bielefeld, und die sagte, sie sind schwanger. Und ich sagte, nein, kann ja gar nicht sein. Und sie sagte, doch. Und ich sagte nein. Ja doch, vielleicht doch. Ja, und dann war es so. Und dann kam ich zurück nach Hause und die beiden Kleinen freuten sich, die fanden das irgendwie cool.

Maris große Geschwister, Tillmann und Tabea, sind damals drei und sechs Jahre alt. Und die beiden haben zu der Zeit schon den größten Teil ihres Lebens im familiären Ausnahmezustand verbracht. Geboren waren sie nämlich nicht in Westfalen, sondern in Berlin. Das war der Ort, an dem Martina und Matthias die Freiheit suchten, weit weg von dem Kaff, aus dem sie stammen: Martina will damals Kunst studieren und Matthias Ruhe vorm Wehrdienst haben, da hatte Berlin nämlich diesen Sonderstatuts: Alle, die nicht in die Bundeswehr eingezogen werden wollten, die gingen nach Berlin.

Und dort hat er dann auch seine eigene Firma aufgemacht. Kunststoffteile fertigen. Seine Produkte sind kurze Zeit sehr gefragt, aber dann kommt 1989 überraschend die Wende und der Absatz bricht ein. Anfang der 1990er geht Matthias mit seiner Firma Pleite. Und weil Martina und er kurz vorher geheiratet haben, hängt sie da mit drin: psychisch, aber vor allem finanziell.

Martina: Da habe ich mir das noch ein paar Monate angeschaut und dann gedacht, so, ich trenne mich.

Die Eltern trennen sich, die Familie wird zerrissen

Noch frisch verheiratet, mit zwei Kindern in Berlin und auf einmal ist die Rede von Scheidung. Martina braucht Abstand und Matthias geht erst einmal allein zurück, ins Elternhaus, nach Schloß-Holte. Hier greift ihm sein Vater unter die Arme. Martina bleibt aber mit Tillmann und Tabea in Berlin, ist auf einmal alleinerziehend.

Martina: Da hast Du ja Panik, wie kriegst Du Dein Kind groß, wie geht das jetzt weiter. Hatten wir wirklich Existenzängste.

Die muss sich jetzt über Wasser halten, als freischaffende Künstlerin. Am Ende sind es Tillmann und Tabea, die den Eltern zeigen, wo es langgeht. Nicht mit Worten, sondern so, wie Kinder das manchmal machen:

Martina: Die wurden beide krank, die wurden wirklich beide krank. Tillmann bekam eine Allergie, von der wir bis heute nicht wissen, wie sie zustande gekommen ist, immer abends, wenns dunkel wurde und ich ihn ins Bett legte, fing der an, in seinem Gitterbettchen seine Handrücken an der Raufasertapete aufzuschubbern und Tabea bekam Juckreiz und alles stellte sich ein. Und ich war so verzweifelt.

Martina wird jetzt klar: Berlin gemeinsam hat nicht funktioniert – da kam die Pleite dazwischen. Die Trennung von Matthias geht aber noch weniger.

Martina: Und dann hab ich gedacht: Oh Gott. Und dann bin ich immer nach Schloss-Holte gefahren, mit den Kindern. Und immer wenn  wir in Berlin waren, fing das wieder an, unter der Woche. Es war dann hier, regulierte sich das ein bisschen.

Nach einer Weile packt Martina also in Berlin zusammen mit Tillmann und Tabea die Koffer, und zieht zurück in die Heimat.

"Ich dachte: verrecke hier in Schloß-Holte. Ich halte das hier nicht aus."
Mutter Martina über den Ort, in den sie zurückgegangen ist - für die Familie.

Tabea: Und ich  dachte, wir wohnen plötzlich im Paradies. Wir sind plötzlich ins Paradies gezogen. Wir haben den Bauern nebenan, da kann man die Kälbchen füttern, wir haben den Wald auf dem Grundstück, und wir wohnen wieder mit Mama und Papa, alle unter einem Dach. Egal wie klein die Wohnung war, wir haben zuerst, bevor die Wohnung renoviert war, in einem Zimmer gehaust, zu viert. Aber irgendwie war alles gut.

Die Kinder finden es großartig auf dem Land. Martina aber ist das damals alles zu eng.

Martina: Dann habe ich gedacht, nee, ich verrecke hier in Schloß-Holte. Ich halte das hier nicht aus.

Die Familiensituation bei Mewes ist zu dem Zeitpunkt alles andere als rosig. Die Firma Pleite, die Eltern zerstritten, die Kinder krank. Die Trennung können Martina und Matthias gerade noch mal abwenden. Und genau jetzt, als die Familie sich gerade wieder fängt, erfährt Martina , dass sie wieder schwanger ist. Martina ist da 37, gilt damit als spätgebärend. Bei einer Frau mit 20 ist das Risiko auf ein Kind mit Trisomie 21 ganz klein, etwa bei 1:1500. Bei Martina liegt es statistisch bei etwa eins zu 1:180 – es ist also gut 8 mal wahrscheinlicher.

Mit 38 gilt Martina als Spätgebärende und die Schwangerschaft als Risikoschwangerschaft

Martina: Meine Frauenärztin sagte mir, wir haben da so ein Limit, mit 38 macht man eigentlich so eine Untersuchung, aber ich will ihnen das nicht aufzwängen, sie sind ja noch nicht, sie werden ja erst. Und da habe ich gedacht, das ist ja auch ziemlich blöd, dass die sich da jetzt an ein paar Monaten aufhängt. Aber sie merkte einfach, dass ich eine Grundeinstellung habe. Ich hatte  die Grundeinstellung, nee, das war für mich aber immer schon klar, ich sortiere hier nicht aus, ich sortiere hier nicht aus!

Das sind diese Momente, wo Martina sich ganz sicher ist. Und dann gibt es aber auch andere.

Martina: Ich wollte es nicht wissen, weil ich vielleicht auch Schiss hatte. Angst hatte, vielleicht in meinen Abgründen etwas zu entdecken, an Emotionen, die dann sagen, ne, komm, das willst Du doch nicht.

Martina entscheidet sich damals gegen die Pränataldiagnostik. Am 15. November ist es dann soweit.

Martina: Es war eine Bilderbuch-Geburt. Und der war so süß und der kam und ich habe gedacht, boah, das ist so ein netter Bursche. Niedlich. Und dann wurde der so weggenommen, der wurde weggetragen, wie man das immer so macht und mein Mann natürlich gleich mit, die Kinder nicht aus dem Auge lassen. Was machen die, diese Untersuchung gleich nach der Geburt. Und dann kam der wieder rein, mit dem Baby auf dem Arm und sagt, weinend, da ist was nicht in Ordnung. 

"Ich hatte ja diese Vorahnung, vor Maris Geburt. Und dann komme ich morgens in der Küche vorbei und da sitzt Papa mit in den Händen vergrabenen Augen und ganz verheult."
Tabea war eigentlich voll Vorfreude auf ihren kleinen Bruder.

Mehr will der Arzt noch nicht sagen. Matthias fährt erstmal nach Hause, zu den Kindern. Im Gepäck, dieser vage Befund, da stimmt irgendwas nicht.

Tabea: Ich hatte ja diese Vorahnung, vor Maris Geburt, ich hatte ja diesen Alptraum, in der Nacht seiner Geburt, dass das Baby auf die Welt kommt und einfach nur so ein Fleischkloß ist und ganz gruselig aussah, das war ein ganz grausiger Alptraum. Und dann komme ich morgens in der Küche vorbei und da sitzt Papa mit in den Händen vergrabenen Augen und ganz verheult und ich frage, was ist los.

Martina: Und dann hat der Matthias gesagt: Ja, das Baby sieht ganz süß aus, aber irgendwie, soll mit dem was nicht stimmen.

Tabea: Mit dem stimmt irgendwas nicht. Und ich dachte sofort: scheiße. 

Martina: Weil man nichts Genaues wusste aber ein Verdacht im Raum stand, den hat man natürlich weiter herausgetragen in die Familie, was? Alles nicht blendend? Keiner wollte mir zum Kind gratulieren. Und es kommen Nachbarn und sagen, es tut uns ja so leid und wir können Dir nicht gratulieren und ich dachte, hallo. Warum könnt ihr mir nicht gratulieren? Ja, das ist ja so traurig. Da soll ja nicht alles in Ordnung sein, bei Deinem Kind.

"Alles nicht blendend? Keiner wollte mir zum Kind gratulieren."
Nach der Geburt von Marian reagieren viele Leute betroffen. Mutter Martina ärgert sich darüber bis heute.

Berlin, das war für Martina auch die Flucht aus der Enge von Schloß-Holte. Jetzt wird klar, wie eng die Vorstellungen an ein Kind sind, zu dem gratuliert werden könnte. Wie wenig Spielraum ist, für das, was von der Norm abweicht.

Martina: Ich glaube, das ist so etwas mit Scham erfülltes. Ich glaube, dass das auch aus dem Glauben kommt, dass man einen Makel hat, als Elternteil, dass man jetzt so gestraft damit ist, ein behindertes Kind zu haben. Kennst  Du den Spruch von Luther? Hüte Dich vor den Gezeichneten? Das hat Luther gesagt. Hüte Dich vor den Gezeichneten. Vor den Buckeligen, vor den Hinkenden.

Nicht leicht für Martina, das alles draußen zu halten. Was ihr in der Zeit hilft: sich auf Marian zu konzentrieren, das, was die anderen ihr Widerspiegeln auszublenden und zu versuchen, das Ganze durch die Augen von Tillmann und Tabea zu sehen, für die er einfach ihr neuer kleiner Bruder ist, auf den sie sich gefreut haben

Tabea: Ich kam dann in Maris Zimmer und alle Sorgen waren vergessen, weil der so unendlich süß war.

Martina: Erst mal habe ich geheult, ich bin wirklich in eine Trauer reingegangen und habe aber auch gedacht, das darf ich. Das ist auch o.k. Und dann habe ich mich gepackt, das kann ja so nicht weitergehen.

Zunächst mal hat sie die Schnauze voll, von diesem Mitleid, gegen das sie sich kaum wehren kann.

Martina: Ey, da ist die Türe. Kannst gleich wieder nach draußen gehen.

Reporter: Hast Du gesagt?                                                          

Martina: Ja, das war dann zwischendurch so, dass ich das nicht mehr wollte, nicht mehr hören wollte.

Die Familie kämpft für Marians Inklusion

Je kaputter die Welt da draußen, desto heiler muss sie zuhause sein. Die Mewes arbeiten jetzt daran. und Martina steigt voll ein. Kaum sind Martina und Marian aus der Klinik raus und zuhause, bekommt Marian neben der Mewes-Ration Liebe und Fürsorge eine optimale Früh-Förderung.

Martina: Ergotherapie, Gymnastik.

Dann auch Logopädie. Martina kontaktiert den Arbeitskreis Down-Syndrom, holt sich Rat bei einem der damaligen Top-Spezialisten. Und Marian: entwickelt sich gut.

Martina: Der war mit zwei Jahren trocken, der brauchte keine Windeln mehr. Da gibt’s ja auch andere Themen, da gibt’s ja welche, die sind mit sieben noch nicht trocken.

Die Kindergartenzeit läuft auch gut, Mari hat zig Freunde, ist gut integriert. Aber dann, als die Grundschule ansteht heißt es: Für Marian sei hier kein Platz.

Martina: Ja, dass man keine Erfahrung hat. Weil die haben ja alle auch Schwerpunkte, Förderschwerpunkte.

"So hab ich den erst Mal übernommen. Und habe mein Kind fast jeden Tag in der Grundschule begleitet."
Als es keine Integrationshelfer gibt, springt Mutter Martina ein.

Und für ihn wäre es deshalb besser in einer Schule mit Förderschwerpunkt Down-Syndrom - die ist aber weiter entfernt. Martina sieht das anders. Freunde, Umfeld, kurzer Schulweg, das ist ihr wichtig. Deshalb schreibt sie Briefe, an die Schulverwaltung, ans Land, an die Kommune. Doch die Schule will nicht. Weil der Integrationshelfer fehlt, der Mari persönlich im Unterricht assistieren muss.

Martina: So hab ich den erstmal übernommen. Und habe mein Kind fast jeden Tag begleitet, in der Grundschule.

Martina geht also nochmal in die Schule, als Maris Integrationshelferin, sie hilft ihm beim Schreiben, erklärt ihm, was er nicht versteht… Das alles kostet sie natürlich unglaublich viel Zeit und Anstrengung. Aber es lohnt sich: Mari packt die Grundschule. Er könnte jetzt auf die örtliche Hauptschule gehen. Aber da wartet schon das nächste Problem: 

Martina: Die Grundschule machte hier 20 Jahre schon integratives Arbeiten und im Sek I gabs aber nix. Die Hauptschule nebenan dachte gar nicht daran.

Auch hier kämpft sie, für Inklusion in Schloß-Holte. Und schafft es.

Martina: Und das haben wir ins Laufen gebracht. Als wir mit Marian von der Schule gingen war klar, die Hauptschule richtet Integration ein.

"Ich habe mir schon als Siebenjährige auf die Fahnen geschrieben, dass uns niemand mehr dafür bemitleiden soll, dass wir Mari haben."
Die große Schwester Tabea schreibt einen Blog über das Leben mit ihrem Bruder.

Martina  kümmert sich jetzt also ganz intensiv um Mari. Und jetzt könnte man denken: Aufmerksamkeit ist nicht unendlich teilbar. Mari bekommt ganz viel davon. Aber: Wie war das für Tillmann und Tabea? Tabea sagt: habe sie nicht so empfunden. Wenn das Thema war, dann kam es meist von außen...

Tabea: Als Mari dann zur Welt gekommen ist und wir ja wirklich noch klein waren, dass wir dann bemitleidet wurden, von Freunden, Bekannten und Erwachsenen, die gesagt haben, Mensch, das tut mir total leid, was ist mit Deinem Bruder. Und wir so dachten, he? Was ist mit dem? Der ist doch auf der Welt, ist doch alles total toll, wir haben ein kleines Geschwisterchen bekommen, wir freuen uns voll. Dass das so in uns Kindern ein Paradoxon ausgelöst hat und ich mir – glaube ich – schon als Siebenjährige auf die Fahnen geschrieben habe, ich werde alles dafür tun, dass mich niemals wieder jemand dafür bemitleidet, dass wir Mari haben.  

Der Tisch ist abgeräumt, die Reste vom Baguette und dem Frischkäse mit Meersalz sind wieder im Kühlschrank, Tabea und ich sitzen in der Küche, reden über ihren Familienblog. Und darüber, was Mari heute für sie bedeutet. Wenn Tabea in Bielefeld an der Uni ist, dann telefonieren sie und Mari im Schnitt dreimal am Tag miteinander. Jetzt gerade brummt ihr Handy auch, obwohl wir nur zwei Zimmer weiter sitzen. Sprachnachricht von Mari.

Tabea: Das Spiele ich Dir vor, weil das auch an Dich gerichtet war. Tabee—aaa, Kooo-ooommm. Der Mann. Das bist Du. Mama. Mama soll auch kommen. O.k. Tschüüss. Michael ist zu Hause. GTA-Spiel. Ich warte, warte, warte…, das ist typisch Mari.

Auf Not Just Down, auf ihrem Blog, schreibt Tabea, dass das Leben mit einem Bruder wie Mari manchmal härter ist, als man sich das so vorstellt. Aber manchmal auch schöner. Weil du durch diese Auseinandersetzung immer wieder gezwungen bist zu unterscheiden, worauf es ankommt im Leben. Mari hat den Mewes geholfen genau dafür ein Konzept zu entwickeln. Was nicht wichtig ist, ist nämlich "agal".

Tabea: Anstatt egal sagen alle agal, aber agal hat noch ne krassere Bedeutung, wenn Mari was egal ist, dann ist es halt wirklich egal. Der sagt das nicht so, egal, ja komm mach ich gerade. Der sagt agal.

Martina: Und dann überprüfen wir und er hat Recht.

Tabea: ganz vieles ist wirklich agal. Und das haben ganz viele Leute übernommen. Sogar bei mir auf der Arbeit.

"Ich glaube, dass wir verstanden haben als Familie, dass irgendwie das Leben was von uns will."
Mutter Martina hat nie mit dem Schicksal gehadert.

Die Familie als Ganzes - und besonders Martina - hat viele Jahre lang für Marian gekämpft. Gegen verkrustete Strukturen, gegen die Einfalt in ihrem Umfeld. Und das hat sie geprägt, in ihrem Denken, wie sie miteinander umgehen. Du merkst, diese Familie hat eine Geschichte, weil sie zusammen etwas geschafft haben.

Martina: Also ich finde, unser Leben hier auf Erden ist ein Wimpernschlag. Schau Dir das Universum an. Wir sind hier maximal 80 Jahre im Schnitt. Was für eine lächerliche Zeit. Ich glaube, dass wir verstanden haben als Familie, dass irgendwie das Leben was von uns will. Und wir nicht immer sagen, ich will was vom Leben. Das Leben will irgendwas von mir und wie meister ich das jetzt mal am Besten.

Die Mewes meistern ihr Leben zusammen

Dass die Mewes heute so eine glückliche Familie sind, das hat viel damit zu tun, dass sie nicht weggelaufen sind vor Problemen. Dass sie immer miteinander darüber gesprochen haben und auch mit anderen, zuletzt über die #notjustdown-Homepage.

Tabea: Da hat mir eine Freundin geschrieben: Ich sitze hier und sehe den Beitrag über euch in der ARD - damit ist dieser "Hier und Heute"-Beitrag gemeint - und mir laufen die Tränen über die Wangen, weil es mich einfach so berührt, wie man deine Liebe zu Mari in allem spürt, was du tust... Oh Gott, da muss ich sofort heulen.

Als wir uns verabschieden ist es längst dunkel. Die Zeit, die ich hier verbracht habe, kam mir gar nicht so lange vor. Andererseits ist ja wirklich viel passiert. Ich weiß jetzt, wie GTA funktioniert, bin um den Block gefahren und habe jemanden umgelegt. Wir haben unheimlich viel geredet. Dabei habe ich gemerkt, dass Martina und Tabea unglaublich gut zuhören können. Das scheint mit Mari zu tun zu haben. Ihn selbst dazu fragen, kann ich leider nicht. Das ist zu komplex. Ist aber auch gar nicht so wichtig. Es ist eigentlich völlig agal. 

Wir erzählen Eure Geschichten

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Shownotes
Down-Syndrom
Marian hält die Mewes zusammen
vom 30. November 2018
Moderator: 
Paulus Müller
Autor: 
Stephan Beuting