Leben wir in einer "Gerontokratie"? Das ist eine kritische Anspielung auf die Generation 50plus, die bei den Wählerstimmen die Mehrheit hat. Damit Interessen von Jüngeren berücksichtig werden, sprechen sich viele für ein Wahlrecht für unter 18-Jährige aus.

Seit 1973 ist in Deutschland die Zahl der Gestorbenen höher als die Zahl der Geborenen. Die Gesellschaft wird im Durchschnitt älter, trotz der meist jüngeren Menschen, die aus anderen Ländern zu uns ziehen. Diese Überalterung hat auch Folgen für die Gerechtigkeit in unserer Demokratie: 58 Prozent der Wähler*innen sind 50 Jahre und älter.

Die Demografie lässt sich nicht so einfach beeinflussen, aber man könnte das Alter, ab dem Jugendliche wahlberechtigt sind, senken. Der Politikwissenschaftler Jörg Tremmel ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen und hat sich als Juniorprofessor lange mit dem Thema generationsgerechte Politik auseinandergesetzt.

Das Wahlalter ist derzeit ein Flickenteppich

Es gibt inzwischen einzelne Bundesländer, die das Wahlalter bei Landtagswahlen heruntergesetzt haben. Dazu gehören Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Bremen und Hamburg. Insgesamt sei es jedoch ein Flickenteppich, wer ab wann wo wählen darf.

"16 ist inzwischen auch das Wahlalter bei der Europawahl."
Jörg Tremmel, Politikwissenschaftler

Jörg Tremmel sagt, dass sich die Wahlergebnisse durch die Änderung des Wahlalters nicht komplett umkehren würden, weil erstens der demografische Anteil der 16- und 17-Jährigen nicht besonders hoch ist und zweitens auch nicht alle Menschen zu Wahl gehen.

"Es geht eigentlich um die Rechtfertigung der egalitären Demokratie."
Jörg Tremmel, Politikwissenschaftler

Wenn über die Herabsetzung des Wahlalters diskutiert wird, geht es schnell um die Frage, welches Alter denn angemessen sei. Selbstverständlich könnten Babys und kleine Kinder noch keine Entscheidungen ohne ihre Eltern treffen. Es sei aber schwierig, eine Grenze zu ziehen, ab wann diese Fähigkeit auch für eine Wahlentscheidung ausreicht. "Dadurch, dass wir einfach auf den Einzelfall schauen müssen, bin ich gegen eine pauschale Grenze und wäre dafür, dass auch unter 16-Jährige sich auf eigenen Wunsch an Wahlen beteiligen dürfen", sagt Jörg Tremmel.

"Ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, dass es kommen wird."
Jörg Tremmel, Politikwissenschaftler

Es könnte ein Wahlrecht auf Antrag geben. Für zum Beispiel 13-, 14-Jährige oder auch noch Jüngere müsste man eine Möglichkeit schaffen, einen solchen Antrag zu stellen. Beispielsweise könnten sie selbstständig zum Bürgermeisteramt gehen und ohne Eltern ihren Wunsch ausdrücken: Ich will ab jetzt mitwählen.

1970 gab es die letzte große Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre. Jetzt gebe es einen Trend zum Wahlalter mit 16, meint Jörg Tremmel. Baden-Württemberg gehe inzwischen sogar noch einen Schritt weiter: 2023 soll das passive Wahlrecht für 16- bis 18-Jährige eingeführt werden. Passiv bedeutet, dass sich auch 16- und 17-Jährige zu Wahl aufstellen lassen dürfen.

Widerspruch im Grundgesetz

Um das Wahlalter für Bundestagswahlen herabzusenken, bräuchte es allerdings Gesetzesänderungen, eventuell sogar eine Änderung im Grundgesetz, erklärt der Politikwissenschaftler. Aus seiner Sicht bestehe ein Widerspruch zwischen Artikel 38 Absatz 2, der das aktive und passive Wahlrecht ab 18 Jahren gewährt, und Artikel 3, der definiert, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, sowie Artikel 20, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, zu dem ja auch die unter 18-Jährige gehören.

"In Artikel 20 heißt es auch, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Zum Volk gehören natürlich auch die unter 18-Jährigen."
Jörg Tremmler, Politikwissenschaftler

Was einer baldigen Änderung des Wahlalters im Wege stehe, seien die aktuellen Mehrheitsverhältnisse. "Natürlich wissen die Parteien ungefähr, wer sie wählt und wer dadurch verlieren würde", so Jörg Tremmel. Die letzte Bundestagswahl habe gezeigt, dass Jüngere vor allem FDP und Grüne wählen und die CDU eher nicht. Deshalb blockiere die CDU im Bundestag eine Grundgesetzänderung, meint der Politikwissenschaftler.

Kein Durchblick, kein Wahlrecht

Das Gegenargument für so eine Wahlrechtsreform lautet meist, Kinder und Jugendliche hätten keinen Durchblick. Jörg Tremmel hält dem entgegen, dass auch ältere Menschen oft geistig nicht mehr ganz fit seien. Allerdings sei die Diagnose Altersdemenz ausdrücklich keinen Grund für den Entzug des Wahlrechts.

Hinzu komme, dass rund zwei Millionen Erwachsene funktionale Analphabeten sind. Auch sie dürfen wählen. "Das heißt, wenn wir jetzt wirklich nach Fähigkeiten gehen würden, dann dürften auch viele über 18-Jährige nicht wählen. Das ist aber ein System, das niemand will, sondern wir wollen die egalitäre Demokratie. Im Umkehrschluss kann man dann aber auch den unter 18-Jährigen nicht mit dem Argument der mangelnden Urteilsfähigkeit das Wahlrecht vorenthalten", so Jörg Tremmel.

Wer wählt, der zählt

Der Politikwissenschaftler ist überzeugt, dass die Politik eher auf die Interessen der jüngeren Generation reagieren würde, wenn mehr junge Menschen wählen dürften. Er vermutet, dass sich auch der Politikunterricht verbessern würde.

Zurzeit sei es hingegen sehr einfach, die unter 18-Jährigen auf Bundesebene mit ihren Interessen zu ignorieren. "Beim Klimaschutz ist es ja so, dass manche mit 14 oder so bei Fridays for Future dabei sind, sich vier Jahre lang politisch engagieren, auf der Straße demonstrieren, aber eben nicht wählen dürfen. Das ist schon ein Stück weit absurd", sagt er.

Shownotes
Generationengerechtigkeit
Wahlrecht für Jugendliche könnte für mehr Demokratie sorgen
vom 12. März 2023
Moderator: 
Sebastian Sonntag
Gesprächspartner: 
Jörg Tremmel, Politikwissenschaftler und Philosoph, Eberhard Karls Universität Tübingen