Unsere Gesellschaft in Westeuropa unterscheidet sich von anderen: Wir denken eher erst mal an uns selbst, passen uns weniger an und die Familie spielt tendenziell auch nicht so eine große Rolle wie in anderen Kulturen.
Forschende aus den USA und Kanada wollten wissen, warum das so gekommen ist. Sie gehen davon aus, dass im Mittelalter in Europa die katholische Kirche großen Einfluss hatte. Die habe damals ein neues Bild von Familie propagiert: Laut dem waren die Ehe und die eigenen Kinder wichtiger als große Verwandtschaftsnetze.
Laut den Forschenden wollte die Kirche auf diese Weise große, einflussreiche Familien-Clans zerschlagen. Deshalb hat sie zum Beispiel die Ehe zwischen Cousin und Cousine verboten und nur mit Sondergenehmigungen zugelassen. Die Kirche hat im Mittelalter außerdem vorgegeben, dass frisch verheiratete Paare einen eigenen Haushalt gründen. Laut den Wissenschaftlern hat das dazu geführt, dass da, wo die Kirche lange großen Einfluss hatte, die Familien kleiner sind und die Verbindungen auch schwächer. Und weil Kinder stark von familiären Strukturen geprägt werden, habe das auch das Denken und Verhalten der Menschen in Westeuropa verändert.
Westliche Kulturgemeinschaften stärker individualistisch
Es gibt viele Studien dazu, dass Menschen aus westlichen Staaten individueller und unabhängiger sind. Sie sind aber auch nicht so loyal und sie sind Fremden gegenüber weniger misstrauisch. Das soll daher kommen, dass diese Menschen nicht von großen Familienclans aufgezogen werden.
Dass der Einfluss der katholischen Kirche zu mehr Individualität führt, haben die Forschenden herausgefunden, indem sie sich 24 verschiedene psychologische Studien angeschaut haben. Diese haben sie mit historischen Daten verglichen, bei denen es um den Einfluss der Kirche und die der Verwandtschaft ging.
"Dabei haben sie herausgefunden, dass in Gebieten, wo der Einfluss groß war, weniger intensive Verwandtschaftsbeziehungen gepflegt wurden und Individualismus wichtiger war."
Außerdem haben sie bei Erwachsenen mit Migrationshintergrund geschaut, ob ihre Eltern aus Ländern kamen, in denen die katholische Kirche einen großen Einfluss hatte. Und dann haben sie geschaut, wie wichtig Verwandtschaft für sie war und wie viel Wert sie auf Individualität gelegt haben und wie misstrauisch sie gegenüber Fremden waren. Laut der Studie war für Erwachsene mit Migrationshintergrund, die aus Ländern kamen, in denen der Einfluss der katholischen Kirche groß war, Individualität wichtig.
Kritik: Andere Theorie außer acht gelassen
Kritiker meinen allerdings, dass in der Studie eine Theorie außer acht gelassen werde, die besagt, dass die Entstehung des protestantischen Menschenbildes zum Individualismus geführt habe. Also gerade nicht die katholische Kirche. Die Kritiker sagen auch, dass man nicht nur von dem einen Individualismus sprechen könne. Es gebe nämlich viele unterschiedliche Arten, individualistisch zu sein.
Bei früheren Studien hatte sich gezeigt, dass westliche Kulturgemeinschaften verglichen mit anderen stärker individualistisch sind, analytisch und vertrauensvoll. Und gleichzeitig sind die Menschen in der Tendenz auch weniger angepasst, gehorsam und solidarisch.