Liz Truss ist als Premierministerin zurückgetreten. Bei den Abgeordneten hatte sie keinen Rückhalt mehr. Der Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza sagt: Die dramatischen Folgen der Steuersenkungen waren absehbar.

Nach wenigen Wochen im Amt ist Liz Truss als Premierministerin zurückgetreten. Während manche jetzt Neuwahlen fordern, wollen die Konservativen eine Nachfolge für Liz Truss bestimmen. Möglicher Kandidat: Boris Johnson.

Deutschlandfunk-Nova-Moderator Till Haase hat zur aktuellen politischen Situation in Großbritannien mit Nicolai von Ondarza gesprochen, Forscher am Deutschen Institut für Internationale Sicherheit und Politik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Till Haase: Herr von Ondarza, wie würden Sie die vergangen Wochen in Großbritannien zusammenfassen?

Nicolai von Ondarza: Es waren sehr verrückte Zeiten. Truss war im Grunde nur sechs Wochen im Amt. Zwei Wochen davon waren dominiert vom Tod der Queen, in denen politisch eigentlich gar nichts passiert ist. Trotzdem hat sie es geschafft, das Land in eine Wirtschaftskrise zu treiben.

Sie hat ein radikales Wirtschaftsprogramm aufgesetzt, eine Wette. Sie wollte die Steuern deutlich senken, vor allem für die Reichen, und gleichzeitig viel mehr Geld ausgeben für den Energiesektor. Diese hyperliberale Politik haben ausgerechnet die Märkte nicht mitgemacht, diese haben die Politik massiv abgestraft. Truss musste ihr gesamtes Programm zurücknehmen und hatte damit jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

War das eine falsche politische Einschätzung? War das schlecht kommuniziert?

Nicolai von Ondarza: Damit konnte man schon rechnen. Der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak hat genau davor gewarnt. Er hat darauf hingewiesen, dass Großbritannien nach dem Brexit in einer prekären Situation ist: Die Zinsen steigen weltweit. Wir haben weltweit eine hohe Inflation, da können wir jetzt nicht die superliberale Politik machen.

Aber genau das wollte die konservative Basis. Diese hat den rationalen Argumenten von Sunak nicht zugehört. Dann ist Liz Truss mit dieser Politik vorgeprescht, und die Märkte haben gesagt: So geht das nicht.

Hatte Liz Truss überhaupt eine Chance?

Nicolai von Ondarza: Sie hat zumindest ein halbes Mandat bekommen. Aber sie hat von Anfang an auf Spaltung gesetzt. Sie hat die Regierung nur mit loyalen Leuten besetzt, von denen niemand gesagt hat: Wartet mal, wollen wir wirklich so weit gehen? Was bedeutet eine so radikale Steuerreform für unseren Haushalt?

Mit jeder Entscheidung hat sie Vertrauen verspielt. In einer Abstimmung über das Fracking wollte sie die Fraktion zur Disziplin zwingen. Dabei hat man gesehen, dass die Abgeordneten ihr einfach nicht mehr folgen.

Die englische Zeitung Daily Mirror, traditionell der Labour Party nahestehend, titelt heute Morgen nicht wenig überraschend: Neuwahlen. Sollte und könnte es tatsächlich Neuwahlen geben?

Nicolai von Ondarza: Demokratisch kann man das sehr klar argumentieren. Die Torys wollen jetzt schon zum zweiten Mal den Premierminister wechseln. Liz Truss hat sich völlig vom Programm von 2019 entfernt. Die Partei hat eigentlich kein Mandat zum Regieren mehr, aber sie haben eine absolute Mehrheit.

Die einzigen, die Neuwahlen durchsetzen können, sind die Konservativen. Sie liegen in Umfragen aber 30 Prozentpunkte hinter der Labour Party. Beim britischen Mehrheitswahlrecht heißt das, dass die Torys von aktuell 360 Abgeordneten auf unter 100 fallen könnten. Und das macht natürlich keine Partei freiwillig.

Deswegen werden die Torys jetzt versuchen, jemanden neuen zu bestimmen in einem Blitzverfahren innerhalb der nächsten Wochen – und versuchen, Ruhe reinzubringen und mit ihrer absoluten Mehrheit die Neuwahlen bis 2024 hinauszuzögern.

Und damit wollen sie erreichen, dass die britische Bevölkerung vergisst, was in der Zeit davor passiert ist? Sie könnten doch noch mehr Zustimmung verlieren.

Nicolai von Ondarza: Vor genau diesem Dilemma stehen jetzt die konservativen Abgeordneten. Bei Neuwahlen wissen sie, dass die meisten von ihnen ihren Sitz und damit ihre Arbeit verlieren. Und deswegen versuchen sie, für sie das geringere Übel zu wählen, vielleicht aus dieser schwierigen wirtschaftlichen Misere herauszukommen und nochmal zu retten, was sie retten können.

Aber, und damit kommen wir zu Boris Johnson: Ich glaube, das Chaos ist noch nicht vorbei. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für den Premierminister sind der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak, der vielleicht eher Ruhe reinbringen würde. Oder aber Boris Johnson, der gerade aus der Karibik nach Hause fliegt und möglicherweise wieder kandidiert.

Wenn die Basis zwischen diesen beiden entscheiden kann, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass es nochmal Boris Johnson wird. Der hat bei den Abgeordneten aber schon ebenfalls viel Vertrauen verloren. Das heißt, es wird wieder eine sehr unruhige Woche in London.

Eine unruhige Woche oder eher unruhige Jahre?

Nicolai von Ondarza: Wenn tatsächlich Boris Johnson der Nachfolger wird, dann glaube ich nicht, dass alle konservative Abgeordnete da mitmachen. Es ist wenige Monate her, dass ein Minister nach dem anderen aus seinem Kabinett zurückgetreten war. Johnson ist zwar an der Basis der beliebteste Politiker der Konservativen, bei den Abgeordneten und in weiten Teilen der Bevölkerung hat er aber das Vertrauen verloren. Ruhe wird bei den Torys so schnell nicht einkehren.

Shownotes
Politikwissenschaftler
"Die Torys haben eigentlich kein Mandat mehr zum Regieren"
vom 21. Oktober 2022
Moderator: 
Till Haase
Gesprächspartner: 
Nicolai von Ondarza, Forscher am Deutschen Institut für Internationale Sicherheit und Politik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin