Ostdeutschland als ewiges Problem? Einfach alles angleichen? Diese Reflexe sind Christina Morina nicht konstruktiv und nicht differenziert genug. Sie sind das eigentlich Problematische an dieser Diskussion, findet die Historikerin.

Statt Wiedervereinigung ist es scheinbar die große Uneinigkeit geworden: Im Osten Deutschlands sieht man den Westen als Problem, im Westen ist es umgekehrt. Mal geht es um Wohlstandsunterschiede, mal um Wohlstandsverlust, mal um Protestwähler und mal um gefühlte Bedeutungslosigkeit.

Ostdeutschland als Problemfall

Auch wenn sie aus sachlichen Gründen für eine ostdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz noch Verständnis hat, hat die Rede von Ostdeutschland als Problemfall für die Historikerin Christina Morina ein zu großes Gewicht.

"Wir neigen alle dazu, uns eher einem Problemfall Ostdeutschland zuzuwenden, als die Dinge konstruktiv zu sehen."
Christina Morina, Historikerin, Universität Bielefeld

Auch Themen, die nicht spezifisch für Ostdeutschland sind, werden zu Christina Morinas Bedauern häufig nicht als gesamtdeutsches oder auch als europäisches oder globales Problem diskutiert, sondern eben als typisch ostdeutsch.

"Vielleicht eignet sich das auch wenig zur Zuspitzung, zur Vereinfachung."
Christina Morina, Historikerin, Universität Bielefeld

Als Beispiel führt sie das Ergebnis der AfD bei den Europawahlen vom 09.06.2024 an. Sie weist darauf hin, dass die Formulierung "Der Osten hat AfD gewählt" deswegen nicht stimmt, weil nicht die Mehrheit der Wahlberechtigten in Ostdeutschland für die AfD gestimmt hat.

Problematische Vereinfachung

Konkret sehen die Ergebnisse für den Osten Deutschlands so aus: Die AfD hat in Berlin 11,6, in Brandenburg 27,5, in Mecklenburg-Vorpommern 28,3, in Sachsen 31,8, in Sachsen-Anhalt 30,5 und in Thüringen 30,7 Prozentpunkte erreicht. Die Wahlbeteiligung in den sechs Bundesländern lag zwischen 61,9 Prozent in Thüringen und 69,4 Prozent in Sachsen.

Als Ergänzung: Während CDU/CSU im Westen Deutschlands bei dieser Wahl fast überall die meisten Stimmen bekommen haben, entfielen im Osten Deutschlands fast überall die meisten Stimmen auf die AfD – siehe diese Karte.

Solche Vereinfachungen und Zuspitzungen wie – "Der Osten hat AfD gewählt" – hätten das Bild von Ostdeutschland als Problem über Jahre hinweg verfestigt.

"Routinemäßig werden Dinge auf diese Art und Weise zugespitzt und zusammengefasst, wo ein Bild entstanden ist, das sehr, sehr fest sitzt, dass der Osten ein Problem ist oder ein Problem hat."
Christina Morina, Historikerin, Universität Bielefeld

Sich gezielt nur mit dem Osten Deutschlands zu beschäftigen, als Ostfrage, wie es die SPD als einzige Partei mit dem Ostforum getan hat, habe sich nicht als idealer Weg entpuppt, findet Christina Morina. Sie sagt: "Ich glaube, im Gegenteil, man muss das, was Ostdeutschland umtreibt, integriert betrachten."

Shownotes
Ost und West
Historikerin: "Es stimmt nicht, dass der Osten für die AfD gestimmt hat"
vom 18. Juni 2024
Moderation: 
Jenni Gärtner und Thilo Jahn
Gesprächspartnerin: 
Christina Morina, Historikerin, Universität Bielefeld