Lange glaubten Hirnforscher, dass wir unsere geistige Leistung der besonderen Bauart unseres Hirns verdanken, die sich im Laufe unserer Evolution vom Tier zum Menschen perfektioniert hat. Falsch! Neben der menschlichen haben sich noch andere, ebenfalls intelligente Gehirn-Architekturen entwickelt. Vögel zum Beispiel haben ein anderes Gehirn als wir - trotzdem sind sie sehr klug. Klüger als wir glauben.
Von der Vorstellung, die menschliche Intelligenz sei das Ergebnis einer linearen Entwicklung hin zu einem immer perfekter entwickelten Wesen, müssen wir uns verabschieden, erklärt der Biopsychologe Onur Güntürkün.
"Diese Ideen sind falsch. Aber sie sind 100 Jahre lang Teil unserer Vorstellung gewesen, wie die Evolution des Hirns und somit auch die Evolution des Denkens vonstatten gegangen ist."
Im Vergleich zu anderen Tieren sind Säugetiere extrem kognitiv leistungsfähig, so Güntürkün. Das verdanken sie ihrem Hirn, das im Gegensatz zu den Hirnen anderer Tiere über einen Neocortex verfügt. Moderne Forschung zeigt aber auch, dass Gehirnkomponenten, wie etwa die beim Menschen stark ausgebildete Großhirnrinde, offenbar keine alleinige Grundvoraussetzung für Bewusstsein und intellektuelle Leistungen sind. Und einige unter euch haben es sicher geahnt: Auch auf die Größe kommt es nicht unbedingt an.
"Das radikal anders aufgebaute Vorderhirn von Vögeln weist im neurobiologischen Detail ganz ähnliche Verhaltensmuster auf wie unser Gehirn."
Forschung mit Vögeln - Rabenvögeln oder Papageien etwa - zeigt, dass diese Tiere sehr viel komplexer denken können, als lange Zeit angenommen. Und das, obwohl sich ihr Gehirn grundlegend von dem unsrigen unterscheidet. So gibt es Arten, die Werkzeuge nicht nur verwenden, sondern sogar herstellen, die Zukunft planen oder eine Vorstellung vom Ich haben. Güntürkün selbst bewies im Experiment mit Elstern, dass sie sich im Spiegel erkennen - das war vorher nur von Menschen, Menschenaffen, Delfinen und Elefanten bekannt.
"Unabhängig voneinander entwickelten Vögel und Säugetiere ähnliche Hirnareale, ähnliche Konnektivitäten, ähnliche Schaltkreise. Die evolutionären Freiheitsgrade zur neuronalen Realisierung von kognitiven Leistungen scheinen somit gering zu sein."
Neue Erkenntnisse zeigen nun, dass Vogelhirne doch Organisationsprinzipien aufweisen, die jenen von Säugetierhirnen ähnlicher sind als bisher bekannt. In Taubenhirnen etwa entdeckte Güntürkün erstaunliche Parallelen zu den Strukturen bei nichtmenschlichen Primaten. Nun erforscht er, welche Mechanismen genau dahinter stehen und wie sie sich bei Vögeln im Vergleich zu Säugetieren entwickelt haben.
Onur Güntürkün lehrt Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er erforscht die Entwicklung und die Mechanismen kognitiver Leistungen. Seinen Vortrag "Die Evolution des Denkens" hat er auf Einladung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld am 10. November 2015 gehalten.
- In Gedanken bei den Vögeln | Zeit.de über die Forschung vonOnur Güntürkün