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In der türkischen Erdbebenregion ist der Unmut gegenüber der Regierung groß. Präsident Erdoğan hat sein Versprechen eines schnellen Wiederaufbaus nicht gehalten. Strom, Wasser, Essen – alles ist knapp. Rund 700.000 Menschen leben ein Jahr nach dem Beben noch in Notunterkünften und der Wiederaufbau liegt bei circa 15 Prozent.

Um 4:17 Uhr Ortszeit begann am 6. Februar 2023 die Erde im Südosten der Türkei zu beben. Mit einer Stärke von 7,8 verwüstete das Erdbeben die Provinz Hatay mit der Hauptstadt Antakya schwer. Rund 53.000 Menschen kamen auf türkischem Gebiet dadurch zu Tode und gut doppelt so viele Menschen wurden verletzt.

Auf das Beben folgten weitere schwere Beben und in den darauffolgenden Tagen wurde die Region circa alle vier Minuten von kleineren Nachbeben erschüttert. Viele Menschen verloren Angehörige und ihr komplettes Hab und Gut. Die Temperaturen waren niedrig und Hilfe kam vielerorts gar nicht an oder ließ lange auf sich warten. Die Versorgung mit Strom und Wasser brach weitgehend zusammen.

Traumatisierung tritt zum Teil erst jetzt zum Vorschein

Nach einem Jahr wird zudem nun immer deutlicher, dass viele Betroffenen durch die Ereignisse nachhaltig traumatisiert wurden, sagt unser Korrespondent Uwe Lueb.

Trigger für traumatische Erinnerungen kann alles mögliche sein: anhaltendes Hundegebell oder auch Regen, weil beides sich vor und während des Bebens ereignet hatte. Viele Menschen aus der Erdbebenregion flüchten sich in ihrer Autos, wenn es anfängt zu regnen oder die Hunde ausdauernd bellen, denn sie befürchten, dass erneut die Erde beben könnte.

"Es fehlt schon noch an Infrastruktur, vor allem an Krankenhäusern."
Uwe Lueb, Korrespondent

Das Erdbeben ereignete sich in einer Gegend, die als erdbebengefährdet gilt, weil hier drei tektonische Platten aufeinander treffen: die anatolische, die arabische und die afrikanische. Aus diesem Grund gibt es viele Auflagen, um erdbebensichere Gebäude zu bauen. Aber in vielen Fällen wurden diese in der Vergangenheit anscheinend nicht erfüllt.

Wo ein vierstöckiges Gebäude geplant war, wurden zum Beispiel illegal noch drei weitere daraufgesetzt, sagt Uwe Lueb. Oft wurde wohl auch nicht das entsprechende Baumaterialien verwendet, wenn man den Grad der Zerstörung in Betracht zieht. Das jahrelange Wegschauen von Regierung und örtlichen Behörden, das nach dem Erdbeben zutage kam, schürt auch die Wut der Bürger.

Als positives Beispiel hob sich nur die Stadt Erzin mit 42.000 Einwohnern hervor. Der Bürgermeister Ökkeş Elmasoğlu hatte in seiner Stadt keinen Pfusch am Bau zugelassen. Dafür ist er vor dem Erdbeben oft verhöhnt und verspottet worden. Doch seine Gewissenhaftigkeit sorgte dafür, dass das Erdbeben kaum Schaden in Erzin verursachte. Dadurch blieben viele Menschenleben verschont und der Bürgermeister wurde anschließend von den Bürgern als Held gefeiert.

Die Notsituation in der Region hält an

Bis heute leben in der Region rund 700.000 Menschen in Notunterkünften; vorwiegend in Containern, aber immer noch auch in Zelten. Rund jedes dritte Kind, das beim Erdbeben obdachlos wurde, hat bis heute nur ein provisorisches Dach über dem Kopf.

Dabei hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schnelle Hilfe, Versorgung mit Kleidung und Nahrung und den zügigen Wiederaufbau innerhalb eines Jahres versprochen. Aber die Menschen sind weiterhin auf internationale Hilfsorganisationen angewiesen, sagt unser Korrespondent Uwe Lueb. Auch nach einem Jahr fällt weiterhin die Strom- und Wasserversorgung immer wieder aus.

"Man hat sich nicht darauf verlassen, dass binnen eines Jahres alles wieder aufgebaut wird, wie Erdogan versprochen hatte, weil es damals schon viele kritische Stimmen von Fachleuten gab, die gesagt haben, dass das rein logistisch überhaupt nicht möglich ist."
Uwe Lueb, Korrespondent

Ein Schweigemarsch in der türkischen Stadt Antakya, bei dem die Einwohner den Toten gedenken wollten, wurde zum Ausdruck des Unmuts gegenüber der örtlichen Verwaltung und der Regierung. Denn die Menschen konnten ihre Wut nicht lange zurückhalten und das Schweigen wurde von Buhrufen abgelöst.

Protest und Gedenken an die  Erdbebenopfer
© IMAGO / ZUMA Wire
Protest- und Gedenkmarsch für die Erdbebenopfer. Auf dem Schild ist zu lesen: "Gibt es jemanden der unsere Stimme hört?".

Vielerorts fehlt es weiterhin an Unterstützung und Hilfsgütern und die Menschen fühlen sich alleinegelassen. Das haben die Menschen beim Schweigemarsch mit Schildern zum Ausdruck gebracht, auf denen "Gibt es jemanden, der unsere Stimme hört?", zu lesen ist. Ein Ausspruch, den Rettungskräfte in den Trümmern auf der Suche nach Überlebenden vor einem Jahr gerufen haben sollen.

Experten: Aufbau könnte bis zu zehn Jahre lang dauern

Präsident Recep Tayyip Erdoğan versprach kurz nach dem Erdbeben den schnellen, unbürokratischen Wiederaufbau. Er sagte, dass jeder innerhalb eines Jahres wieder eine Wohnung bekommen sollte. Von den versprochenen Wohnsiedlungen sind bisher nur 15 Prozent gebaut worden. Historische Bauten wurden gar nicht erst in die Kalkulation mit aufgenommen und Experten gehen davon aus, dass der Wiederaufbau bis zu zehn Jahre dauern kann, berichtete Katharina Willinger in den Tagesthemen.

Zudem gibt es nach der großen Zerstörung große Ängste und ein Misstrauen gegenüber der Baubranche. Viele Menschen trauen sich nicht, in Häuser zurückzukehren, die als nur leicht beschädigt bewertet wurden.

Neben dem Wiederaufbau besteht die Herausforderung nun möglicherweise auch darin, die Traumatisierung der Menschen, die zum Teil erst jetzt zum Vorschein tritt, zu behandeln. Denn viele werden erst dann in die Häuser zurückkehren, wenn sie davon ausgehen, dass es auch sicher ist.

Shownotes
Türkei
Nach dem Erdbeben: Wiederaufbau verläuft schleppend
vom 06. Februar 2024
Moderation: 
Markus Dichmann
Gesprächspartner: 
Uwe Lueb, Korrespondent