Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, Diskriminierung von regimekritischen Stimmen – viele junge Menschen sehen für sich keine Chance auf eine positive Zukunft in der Türkei. Deshalb wandern sie aus, sofern sie können.

Mehr als 50.000 Asylanträge wurden in Deutschland seit Anfang des Jahres
gestellt. Der größte Teil stammt von Menschen aus Syrien. An zweiter
Stelle kommen Menschen aus der Türkei. Einem Land, in dem kein Krieg
herrscht und das als weitgehend sicher gilt.

"Ich wollte nicht hier her. Ich hatte ein gutes Leben in der Türkei. Aber nach der Wahl wurde die Schlinge um meinen Hals immer enger. Es war klar: Entweder ich lande im Gefängnis oder mir wird der Pass entzogen."
Ayşe Çelik, Anwältin und Asylsuchende

Insbesondere für Akademiker und Intellektuelle ist die politische Lage in der Türkei schwierig, sobald sie als regimekritisch wahrgenommen werden.

Auswandern als letzter Ausweg

Obwohl sie ihr Heimatland liebt und nie vorhatte, es zu verlassen, ist Ayşe Çelik nach Deutschland ausgewandert, um hier Asyl zu suchen. Zu groß war die Sorge der Rechtsanwältin, dass ihr der Pass abgenommen wird oder sie andere Repressalien erleben könnte.

"Viele sind schon gegangen: Darunter befinden sich Medienschaffende, Wissenschaftler, Leute aus dem IT-Bereich, also ganz gemischt - viele noch sehr jung, das belegen auch Studien."
Luise Samann, Deutschlandfunk Nova

Unsere Reporterin Luise Samann hat sechs Jahre lang in der Türkei gelebt. Viele ihrer Freunde und Bekannten sind inzwischen in Berlin. Denn die wirtschaftliche und politische Lage in der Türkei bietet ihnen wenig Perspektive. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem letzten Jahr hat gezeigt, das zwei Drittel der jungen Türken bereit sind, ihr Land zu verlassen, berichtet Luise Samann.

Wer sich regimekritisch äußert, muss mit Konsequenzen rechnen

Die Unzufriedenheit ist groß, wer sich aber öffentlich kritisch äußert, muss schlimmstenfalls mit juristischer Strafverfolgung rechnen. Die Chance, einen Job zu finden, ist dann gering. Wer bereits eine Anstellung hat, muss befürchten, dass er entlassen wird.

Vielen unabhängigen Journalisten ist es so ergangen. Sie haben sich dann mit Meinungsformaten auf Youtube etabliert und finanzieren sich über Werbeeinnahmen, Patreon-Einkünfte und Spenden.

"In der Türkei gibt es riesige wirtschaftliche Probleme, und der Präsident denkt nur an sich und seine Leute."
Kurdischer Asylsuchender in einer Notunterkunft in Berlin

Auch viele Kurden mit türkischem Pass sind unter denjenigen, die in Deutschland Asyl suchen. Sowohl der politische wie der wirtschaftliche Druck ist groß. Und durch die Folgen des Erdbebens ist die Lage im Erdbebengebiet bis heute prekär.

Auf illegalen Wegen nach Deutschland

Aus der Türkei auszuwandern, ist allerdings nicht leicht, weil das
Land nicht Teil der EU ist. Viele reisen nach Bosnien, Albanien oder
Serbien, weil sie dafür kein Visum benötigen und versuchen dann auf
illegalen Wegen über den Balkan nach Deutschland zu kommen.

Wer hier einen Asylantrag stellt, hat außerdem keine besonders guten
Aussichten: Von den kurdischen Asylsuchenden haben weniger als fünf Prozent eine Zusage erhalten, bei den Türken jeder Zweite.

Doch auch mit Asyl bleibt der Neustart in Deutschland schwierig, wenn man zum Beispiel erst einmal die Sprache lernen muss, sagt Luise Samann. Vielen Akademikern ist es dann vorerst nicht mehr möglich, in ihrem erlernten Beruf weiterzuarbeiten.

Shownotes
Auswandern
Junge Türkinnen und Türken: Der Perspektivlosigkeit entfliehen
vom 27. März 2024
Moderation: 
Nik Potthoff
Gesprächspartnerin: 
Luise Samann, Deutschlandfunk Nova