Die große Picasso-Ausstellung 1955 in München führte zu einer neuen, offeneren und demokratischeren Auseinandersetzung mit der Kunst, die zuvor im Nationalsozialismus diffamiert wurde und verboten war. Ein Vortrag des Kunsthistorikers Uwe Fleckner.
Die Nationalsozialisten verbannten und verfemten die Kunst der Avantgarde. Nach dem zweiten Weltkrieg hielt sie langsam wieder Einzug in deutsche Museen. 1955 fand in München eine große Ausstellung der Werke Pablo Picassos statt. Der Ort: Das Haus der Kunst, ein Ausstellungsbau, den die Nationalsozialisten als Präsentationsort für regimetreue Künstler erbaut hatten.
"Die Besucher der Retrospektive sahen sich dazu herausgefordert, auf die eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen und sich ihre Meinung über dessen Kunst überhaupt erst zu bilden."
Diese Ausstellung der Werke Pablo Picassos trug 1955 dazu bei, die "Gespenster nationalsozialistischer Kunstpolitik" an diesem Ort auszutreiben, argumentiert Uwe Fleckner in seinem Vortrag. Er ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und Leiter des Warburg-Hauses Hamburg, einem interdisziplinären Forum für Kunst- und Kulturwissenschaften.
Demokratische Auseinandersetzung mit Picassos Werken
Allein dass im Haus der Kunst Werke von Pablo Picasso, eines von den Nationalsozialisten verbannten Künstlers, gezeigt wurden, "entnazifizierte" den Ausstellungsort nicht, so Uwe Fleckner. Viel entscheidender war, wie die Ausstellungsbesucher sich mit den Werken auseinandersetzten.
"Erst die offene, noch unsichere, fragende, ja sagen wir getrost, demokratische Auseinandersetzung mit dieser Kunst konnte hier den Beginn einer Wiedergutmachung markieren, deren mühsamer Prozess bis heute andauert."
1955 gab es kein abgeschlossenes, allgemeingültiges kunstwissenschaftliches Urteil über die Werke Pablo Picassos. Seine Bilder waren politisch, sie irritierten. Die Besucher waren gezwungen, sich selbstständig ein eigenes Urteil zu bilden - beim Betrachten der Werke, im Gespräch mit anderen Ausstellungsbesuchern.
"Die Feuilletonisten blickten in erstaunte, begeisterte und wütende Gesichter. Man wies darauf hin, dass eine solche Kunst erst nach Jahrzehnten würde angemessen beurteilt werden können."
Genau dieser Prozess, diese Art der offenen Auseinandersetzung mit dem Werk eines Künstlers, unterschied die Ausstellung von der Art und Weise, wie Kunst im Nationalsozialismus präsentiert wurde, so der Kunsthistoriker. Nationalsozialistische Kunstausstellungen präsentierten den Betrachtern ein feststehendes Urteil. In der Münchner Picasso-Ausstellung aber waren die Besucher herausgefordert, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Der Vortrag
Uwe Fleckner hat seinen Vortrag "Die Bilder schauen zurück. Wie Pablo Picasso das Münchner Haus der Kunst entnazifizierte" am 8. November 2022 in Hamburg im Rahmen der Reihe "Bilder als Akteure des Politischen. Sozial- und Kunstwissenschaftliche Perspektiven" gehalten. Diese Reihe haben das Hamburger Institut für Sozialforschung und das Warburg-Haus gemeinsam veranstaltet.