Fast die Hälfte aller Unternehmen muss um Azubis kämpfen - tausende Stellen bleiben unbesetzt. Das hat verschiedene Gründe, sagt Wirtschaftsjournalist Nicolas Lieven. Paula ist im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Ausbilder auf dem Bau. Doch finanziell und privat muss sie Abstriche machen.
Das neue Ausbildungsjahr hat für viele Azubis schon begonnen. Doch auch in diesem Jahr werden wieder tausende Stellen unbesetzt bleiben. Fast jeder zweite Betrieb sucht noch Auszubildende – besonders die Gastronomie, die Industrie und der Handel sind betroffen, sagt die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK).
"Die Tendenz ist ganz klar: Mit den Ausbildungsverträgen geht es nach unten, und zwar schon seit etwa zehn Jahren", sagt Wirtschaftsjournalist Nicolas Lieven. Richtig unter Druck seien der Einzelhandel, die Landwirtschaft, das Hotelgewerbe, soziale Berufe und vor allem das Handwerk: "In der Zwischenzeit unterschreiben da etwas mehr Frauen, das ist ein positiver Trend, aber das kann den Rückgang bei den Männern nicht ausgleichen."
"Zuletzt hatten wir rund 200.000 Ausbildungsstellen, die unbesetzt waren."
Vom Azubi-Mangel seien oft Branchen betroffen, die vermeintlich unattraktive Arbeitszeiten haben, "wo man vielleicht auch mal spät oder am Wochenende ran muss", so der Journalist. In einigen Branchen läge es auch an der Bezahlung. "Wobei gerade im Handwerk im Jahr auch mal 40.000 bis 50.000 Euro drin sind. Also so schlecht ist das nicht bezahlt."
1230 Euro brutto
Paula (Name von der Redaktion geändert) arbeitet im Handwerk. Sie macht gerade eine Ausbildung auf dem Bau und ist dort oft die einzige Frau unter vielen Männern. Sie hatte es nicht leicht, einen Ausbilder zu finden. 1.230 Euro verdient sie brutto, erzählt sie. Ohne ihren Partner könnte sie sich mit diesem Verdienst kaum eine eigene Wohnung leisten. In ihrem ersten Ausbildungsberuf als Friseurin war ihr Verdienst allerdings noch viel geringer: 400 Euro brutto hat sie damals bekommen.
30 Bewerbungen hat Paula geschrieben, bis ihr ihr jetziger Meister die Chance geboten hat, als ausgebildete Friseurin noch einmal eine Ausbildung in einer völlig anderen Branche anzufangen.
Baugewerbe: Vorurteile gegenüber weiblichen Azubis
In ihrem Betrieb fühlt sich Paula wohl, jedoch überbetrieblich bekommt sie gelegentlich die Vorurteile zu spüren, die es gegenüber weiblichen Auszubildenden auf dem Bau gibt. Trotz gewisser Rollenklischees macht Paula ihre Arbeit Spaß. In ihrem Betrieb gibt es zudem eine Vertrauensperson, an die sie sich wenden kann, wenn sie eine Ungleichbehandlung erfährt.
Während ihrer Ausbildung hat Paula gelegentlich Sprüche wie "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" zu hören bekommen. Auch Jan Krüger vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) kennt diese Äußerungen. Er sieht darin das Zeichen, dass manchen Ausbildern ganz offenbar das Einfühlungsvermögen gegenüber den Auszubildenden fehlt. Er denkt aber, dass sich diese Unternehmen selbst keinen Gefallen damit tun, wenn sie die Bedürfnisse der Auszubildenden ignorieren. Denn dadurch sind sie nicht so attraktiv wie andere Arbeitgeber, die den Bedürfnissen junger Azubis gegenüber offener sind.
Wenn man sich Jugendstudien ansehe, könne man feststellen, dass das Interesse, eine Ausbildung anzufangen, bei Jugendlichen gar nicht nachgelassen habe, sagt Jan Krüger. Jedoch gebe es inzwischen weniger Schulabgänger*innen, bei denen dieses Interesse auch tatsächlich dazu führe, dass eine Ausbildung begonnen werde, sagt Jan Krüger vom DGB.
Azubi-Stellen: Verschiedene Gründe für das Mismatch
Es gibt viele Gründe, die dazu führen können, dass junge Erwachsene nicht den richtigen Ausbildungsplatz finden, sagt Jan Krüger. Zum Beispiel, dass das ausbildende Unternehmen in einem anderen Bundesland liegt, wohin der- oder diejenige dann zuerst umziehen müsste. Aber auch bei Firmen, die billige Arbeitskräfte suchen, würden viele, die sich nach einem Ausbildungsplatz umschauen, regelrecht die Flucht ergreifen, so der DGB-Mitarbeiter.
"Das Interesse an der Ausbildung ist relativ stabil und relativ hoch. Wir sehen bloß, dass tatsächlich immer weniger in eine Ausbildung einmünden."
Das bestätigt auch Wirtschaftsjournalist Nicolas Lieven: Im vergangenen Jahr gab es noch rund 100.000 Menschen, die keine passende Lehrstelle gefunden haben. Nicht immer passt die Lehrstelle vor Ort.
"Es passt auch oft die Lehrstelle nicht zu den Bewerberinnen oder den Bewerbern."
Viele Schulabgänger wüssten zudem oft nicht wirklich, was sich hinter den einzelnen Berufen verbirgt – die Corona-Pandemie habe die Lage noch verschlechtert: Schulpraktika sind ausgefallen, Infoveranstaltungen oder Berufsmessen fanden kaum statt. Die Unternehmen müssten daher noch viel aktiver werden und ihre Arbeit transparenter machen – auch über Soziale Medien.
Vieles ist heute für Bewerber*innen verhandelbar
Insgesamt bietet der Lehrstellenmarkt den neuen Azubis aber auch viele Chancen, meint Nicolas Lieven. Nicht alles kann man verhandeln, aber manches doch. Die Vergütung im Bereich der Tarife ist beispielsweise festgeschrieben: Zwischen rund 600 und 1600 Euro verdienen Auszubildende, je nach Lehrjahr und Branche. "Im Einzelgespräch kann man trotzdem ein höheres Gehalt aushandeln", so der Journalist.
Und er berichtet: Manche Ausbilder gewähren Prämien, wenn man die Lehre erfolgreich abschließt. Andere bezahlen Zuschüsse für Fahrtkosten oder Lebensmittel, bieten mehr Freizeit oder gelegentliches Homeoffice an. Auch eine spätere Übernahme in den Betrieb könne man schon früh ansprechen und festmachen.