Lena Chens Exfreund stellt aus Rache Nacktfotos von ihr online, schnell weiß ganze Uni davon. Sie ist eines der ersten bekannten Opfer von Revenge Porn. Die Harvard-Studentin zieht nach Deutschland, legt sich eine neue Identität zu. Das hilft nur temporär. Wie sie sich mit ihrer Vergangenheit versöhnen konnte, hört ihr in der Einhundert.

Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.

Als Lena 2005 von Los Angeles nach Harvard kommt, denkt sie zuerst: Yes, ich habs geschafft. Jetzt kann ich machen, was ich will. Aber ihr wird schnell klar: Dass jemand wie sie hier studiert, das ist ungewöhnlich. Sie hat das Gefühl: Sie gehört nicht dazu.

Lena: So my parents did not make that much money and because of that I qualified to have my tuition fully paid for and that wasn't the case for all Harvard students. 

Weil Lenas Eltern nicht viel Geld verdienen, und zwar weniger als eine bestimmte Grenze, bezahlt die Uni die kompletten Studiengebühren für Lena – 41.000 Dollar im Studienjahr 2005/2006. Und um sie herum hat kaum jemand ein volles Stipendium wie sie.

Lena: So already knowing that you know that was definitely something that made me different: Having less money. But I think that I also just never really fit into any environment that I was part of. I was always quite rebellious. I didn't really do things by the book. 

Lena schreibt einen Sexblog

Dieses Gefühl, dass sie nicht so richtig dazugehört, das hat Lena schon, als sie in der chinesischen Einwanderercommunity aufgewachsen ist – und in der neuen Umgebung, an der Harvard University, da hört das nicht auf. Vielleicht ist es auch ihr Charakter. Sie sagt, sie war immer schon rebellisch.

"And one of the ways I dealt with my feelings of isolation and not fitting in at Harvard was to start writing about it."
Lena Chen, Revenge-Porn-Opfer

Irgendwann fängt sie dann an genau darüber zu schreiben – auf einem Blog. Den nennt sie "Sex and the Ivy". Sex, weil sie auch über Sex schreibt. Und The Ivy – das geht zurück auf The Ivy League, so nennt man eine Gruppe von acht Elite-Unis, die alle im Nordosten der USA liegen, dazu gehören unter anderem Yale, Princeton, Columbia – und eben Harvard.

Ja, und "Ivy" ist eben so eine lockere Bezeichnung für diesen elitären Mikrokosmos, den man an diesen Elite-Unis und eben auch in Harvard erlebt. Man kennt sich, man profiliert sich, und wer hier was werden will, muss irgendwie mitspielen. Den guten Ton der ganzen Sache wahren. Im Namen ihres Blogs, Sex and the Ivy, steckt die Provokation also schon drin.

Lena: And on this blog I wrote about my struggles with depression. I wrote about feeling like an imposter and I also wrote about my sex life because sex was something that I was really interested in exploring and I felt quite limited when I was growing up in Southern California because my mother was quite strict with me. So being at college meant I had a certain kind of freedom now to explore all the things that I didn't have a chance to do so fully before. 

Lena Chen im See
© Maite Pons (dream state is the name)
Harvard bedeutete für Lena die große Freiheit.

Lena probiert in der Zeit viel aus – vor allem Sex und Drogen. Alles, was vorher nicht ging, wegen der strengen Mutter, wegen der chinesischen Regeln.

Sie bloggt gefühlt jeden Tag, beschreibt ihre Dates, ihre One-Night-Stands, erklärt, was genau sie bei Blowjobs mit ihrer Zunge macht und wie schnell sie Männer so zum Orgasmus bringt, erzählt von einem Kondom, das beim Sex abgerutscht ist und wie sie es erst Tage später zufällig wieder gefunden hat. In ihrer Vagina.

Sie studiert Soziologie, schreibt daher auch hin und wieder über Gender und Feminismus – aber natürlich bekommen Blowjobs und verschwundene Kondome mehr Klicks. Zu dem Zeitpunkt ist sie 19.

"Back in 2006 that was all new and having that kind of content come from a very young woman of color that was also new."
Lena Chen über ihren Sexblog

2006 fängt das Social-Media-Zeitalter gerade an – und Lenas Blog wird ziemlich schnell bekannt. Und sie auch. Die 19-jährige chinesische Studentin mit dem Sexblog. Viele ihrer Mitstudenten sind schockiert, viele fasziniert es aber auch. Harvard-Nachrichtenseiten berichten über sie, nationale Medien auch, und Lena sagt, sie bekommt damals auch schon viele positive Rückmeldungen von Frauen, viele wie sie mit asiatischem Hintergrund, die ähnliche Gefühle haben. 

Ja und in dieser Zeit, da datet sie auch einen Typen, der ihr sagt, dass er gerne ne feste Beziehung mit ihr haben möchte. 

Lena: This guy I dated for a couple of months turned out to be seeing other women and was just generally very inconsistent with his behavior because he wanted an exclusive relationship. And then me and this other girl realized he was seeing both of us and we're like WHAT THE FUCK. 

Irgendwann findet Lena raus, dass er es damit wohl doch nicht so ernst meint, weil er gleichzeitig noch mit einer anderen Frau was hat.

Lena: So I just ended things very abruptly with him and he was quite persistent in the months following that trying to contact me leaving me messages sometimes calling me and hanging up when I answer weird behavior like that. But I never really gave him any attention and I just wanted him to go away. 

Lena macht Schluss mit ihm.

Aber dieser Typ will das nicht verstehen, dass Lena wirklich keinen Bock mehr auf ihn hat. Neun Monate lang lässt er sie nicht in Ruhe. Schreibt ihr, ruft sie an. Wenn sie dran geht, legt er sofort wieder auf. Hinterlässt seltsame Nachrichten und so weiter. Das nervt Lena, klar, aber sie lässt sich nicht beeindrucken.

"So, so obviously I knew that he had possession of these photos. And I guess around Christmas Eve he got frustrated. So this was his way of getting revenge on me probably after he realized I was not gonna speak to him again."
Lena Chen

Um Weihnachten 2007 herum kapiert ihr Exfreund, dass sie nicht mehr mit ihm reden will. Das frustriert ihn so sehr, dass er sich an Lena rächt.

Ihr Ex-Freund schickt Nacktfotos von ihr an den Gossip-Blog ihrer Uni

Lena ist zu dem Zeitpunkt bei ihren Eltern in Los Angeles. Die Uni ist geschlossen, sie will ein paar Tage entspannen. Ihre Eltern wissen nichts von Lenas Blog, geschweige denn von ihrem Sex- und Partyleben in Harvard.

Dann bekommt sie eine Mail. Absender: Maureen O'Connor von der Webseite Ivy Gate. Ivy Gate ist ein großes Blog, wie so eine Uni-Zeitung, von Studenten, mit Kommentarspalten unter allen Artikeln, und inhaltlich beschäftigen sie sich vor allem mit Gossip. Lenas Blog war schon oft Thema, Lena mit ihrem eigenen Kopf und ihrer Liebe zur Provokation ist so ein bisschen der Lieblingsfeind von Ivy Gate.

Maureen schreibt in einer unangenehmen Sache: "Hey we're getting these links with images of you naked and having sex. Do you want to comment on this?"

Lena: And he posted the photos with a link in the comments section of a website called Ivy gate and this website was known for sharing news and gossip from the Ivy League universities.

Ihr Ex-Freund hat sie mal fotografiert, in einer sehr intimen Situation. Zwölf Fotos davon stellt er jetzt ins Internet: Auf einigen hat sie zwar was an, aber wenig; auf anderen ist sie nackt. Und man sieht sie und ihn beim Sex. Explizit. Die Links zu der Fotogalerie postet dieser Ex-Freund einfach in die Kommentare unter irgendeinen Artikel der Gossipwebseite. Username: FUCKLENA.

Damals gab es dafür noch keinen Namen - heute heißt es Revenge Porn

Lena: And of course it was very, it was very, I dont want to say shocking because I knew he had the photos and he could do something with it. But I never felt myself physiologically be in such a state before because everything just kind of shut down. Of course I was upset but it was almost like I was on autopilot trying to think of damage control and nothing like this had ever happened to anyone I knew before.

Lena wird fast ohnmächtig. Sie hatte geahnt, dass der Typ mit den Fotos etwas anstellen könnte. Aber dass er aus Rache diese intimen Fotos preisgibt, in der größtmöglichen Öffentlichkeit, damit hat sie nicht gerechnet. Lena hat das Gefühl, jemand anders habe plötzlich die Macht über sie, über ihren Körper übernommen: Alles in ihr fährt herunter, als ginge es nur noch ums Überleben. 

Heute nennt man das, was mit Lena geschieht: Revenge Porn. Aber damals, 2007, 2008 gibt es noch keinen Begriff dafür. Lena ist eine der ersten, der das passiert. 

"You know these days when something like this happens at least you know what to call it and you know it's wrong. And that it's also illegal. But back then it was just like it's a horrible thing that's happening. How do I control this horrible thing."
Lena Chen gilt als eines der ersten bekannten Opfer von Revenge Porn

Absurderweise veröffentlicht das Online-Magazin dann einen Artikel darüber, dass die Fotos geleakt sind, und sorgt so nochmal dafür, dass wirklich jeder die Fotos kennt. Lena chattet sogar noch mit Maureen und gibt Statements dazu ab. Heute findet sie das auch ziemlich abgefuckt, dass die überhaupt darüber berichten. Aber damals stellt sie das, überhaupt nicht in Frage.

Ihren Eltern erzählt sie erstmal nichts davon. Nach Weihnachten fliegt sie dann zurück nach Harvard. Und im Flugzeug nach Boston erlebt sie ihren ersten Nervenzusammenbruch. 

Lena: Basically I start to experience post-traumatic stress. I'm feeling really anxious in public situations. I have panic attacks for the first time as well. And I just kind of hide off campus in some friends apartment.

In den nächsten Tagen und Wochen geht sie zwar in die Uni und besucht Veranstaltungen. Den Rest der Zeit sitzt sie irgendwo drinnen und geht nicht vor die Tür, versteckt sich bei Freunden. Die sind natürlich schockiert und kümmern sich um sie. Wenn sie in der Uni unterwegs ist, versucht sie, sich nichts anmerken zu lassen. Aber natürlich kriegt sie mit, dass die Leute hinter ihrem Rücken über die Fotos reden – und sie sich auch gegenseitig zuschicken.

Trotzdem bloggt sie weiter. Sie will sich nicht unterkriegen lassen.

Der Täter bedroht auch ihren neuen Freund 

Sie studiert weiter und akzeptiert irgendwie, dass diese Fotos von ihr im Netz sind. Lena hat in dieser Zeit immer wieder Panikattacken, in allen möglichen Situationen. Zuhause, in der Uni, beim Einkaufen, online. Aber irgendwie kommt sie klar, zwar eher schlecht, aber sie beendet immerhin das Semester.

Zwei Monate nach Weihnachten verliebt sie sich. In Patrick. Der kommt aus Deutschland und ist Doktorand in Harvard, sie saß sogar schon mal in einem Kurs, den er gegeben hat. Er kennt natürlich ihr Blog, die Fotos wahrscheinlich auch. Er verliebt sich auch in sie, sie kann ihm vertrauen. Sie werden ein Paar. Es wird langsam Frühling, in Harvard blühen die Kirschbäume, Lena geht es besser, seit sie mit Patrick zusammen ist. Aber sie hat immer noch das Gefühl fremdbestimmt zu sein.

Sie ist seit zwei Monaten mit Patrick zusammen, als er plötzlich in diese ganze Sache reingezogen wird.

"Patrick's name gets posted on a random message forum by an anonymous person."
Lena Chen

Irgendjemand schreibt irgendwo ins Internet rein: Lena Chen hat einen neuen Freund, und es ist Patrick, der ist Doktorand. Sie hat keine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte und mit welchem Interesse, und woher diese Person überhaupt von Patrick weiß. Es muss irgendjemand sein, der sie kennt – oder beobachtet. 

Lena: Around the same time someone online is creating fake articles about me and my friends, and Patrick who is my new boyfriend.

Diese Fake-Artikel sind eine Mischung aus Zitaten aus Lenas Blog und frei erfundenen Sachen. Sie betreffen Lena selbst, ihre Freunde, und Patrick. In einigen Texten wird behauptet, Patrick habe seine Rolle als Doktorand ausgenutzt, um an Lena heranzukommen, Lena habe ihn für gute Noten ausgenutzt, es heißt sogar, er habe sie vergewaltigt.

Und es ist nicht nur so, dass die Texte in irgendwelchen Foren auftauchen. Der anonyme Stalker betreibt richtig Suchmaschinenoptimierung. Das heißt: Wenn man zu dieser Zeit bei Google "Lena Chen" eingibt, erscheinen diese Infos ganz oben in den Suchergebnissen. Google Bombing.

Lena hat jetzt nicht nur diese Paranoia, weil unglaublich intime Nacktfotos von ihr im Netz kursieren. Sie fühlt sich beobachtet. Ständig. Der Stalker geht sogar so weit, dass er Patrick bedroht.

"The graduate students and the professors of the sociology department where Patrick is getting his Ph.D. receive emails with links to the false information and demands that he get kicked out of his Ph.D. program."
Lena Chen

Die Attacken verfolgen also nicht nur das Ziel, Lenas Ruf online zu zerstören, sondern es soll ganz klar Auswirkungen auf das echte Leben haben. Spoiler: Patrick wird nicht gefeuert. 

Die ganze Zeit über ist völlig unklar, wer hinter den Attacken steckt. Sie versucht natürlich, irgendwie rauszufinden, wer es ist. Der Ex ist naheliegend – aber dafür gibt es null Anhaltspunkte. Lena hat absolut keine Ahnung.

Lena: I don't, I don't, I don't know. Oh I have no idea. I really don't know. I don't know. You know I don't I really don't know.

Nach außen hin versucht Lena, die Fassade aufrechtzuerhalten. Sie will ihr Studium in Harvard nicht aufs Spiel setzen. Aber sie ist völlig verunsichert. Sie hat das Gefühl, sie wird ständig beobachtet. Normal weiter studieren ist unmöglich, sie ist mittlerweile nicht mal mehr in der Lage, die letzten Seiten einer Hausarbeit zu schreiben.

Ihre Uni entscheidet: Ein Jahr Pause

Damit gefährdet sie auch ihre Noten. Deswegen erzählt sie ihrer Mutter jetzt von dem Sexblog, nicht aber von den Fotos. Dann entscheidet die Uni: So geht das nicht weiter, und setzt sie auf "academic probation" – ein Jahr Pause.

Lena: So I had to take 2008 2009 off and I spent the summer of 2008 in Europe which was really good for me. I think I needed that kind of distance from what was happening. And I got a job I did really well. I started writing articles.

Lena verbringt den Sommer in Heidelberg, und entspannt sich ein bisschen. Als sie zurück in den USA ist, fängt sie an, professionell zu schreiben – nicht nur für ihr Blog. Als Freelancerin. Sie schreibt Texte über sexuelle Aufklärung, für große Medienhäuser und Non-Profit-Organisationen. Zielgruppe sind Mädchen und junge Frauen.

Es macht ihr Spaß, und sie ist erfolgreich in dem, was sie tut. Sie fängt an, sich feministisch zu engagieren, schreibt zunehmend politischere Texte. Sie bekommt mehrere Angebot, ein Buch zu schreiben über ihr Leben mit den Attacken. Der Stalker hat immer noch keine Ruhe gegeben – auch nicht in ihrer Auszeit von Harvard.

Das Stalking ändert ihre Persönlichkeit

Seit sie mehr publiziert, nimmt der anonyme Stalker auch ihr professionelles Umfeld immer mehr ins Visier. Auftraggeber und Kollegen von Lena erhalten Mails mit Links zu den Fotos. Ihre Namen werden in Fake-Artikel über Lena eingebaut, die dann irgendwann bei Google ganz oben auftauchen, wenn jemand den Namen des Kollegen sucht.

Lena hat keine Ahnung, wer der Stalker ist und warum er so gut über ihre Leben Bescheid weiß. Sie ist richtig fertig, traut sich kaum noch, mit Leuten zu sprechen, die sie nicht kennt. Und schon gar nicht mit fremden Männern. Das geht sogar so weit, dass sie sich nicht mehr traut in einer Bar ein Bier zu bestellen (wenn hinter der Bar ein Mann ist). Sie vermeidet auch alle Situationen, in denen sie mit einem Mann allein in einem Raum ist. Ihre Wohnung verlässt sie nur noch zusammen mit Patrick.

Lena: If you ask any of my friends who've known me since I was young you know I've always been like very extroverted always having a lot of friends in different places. Very very easy for me to like meet and connect with people.

"But the trauma really changed my personality. I don't think that I was behaving in a rational way. I was behaving like a very self protective way. But it was kind of easy to hide because my career was going well on the outside.​"
Lena Chen

Und so geht das dann eine ganze Zeit lang weiter: Sie arbeitet, und studiert, hat Panik-Attacken, und versucht allen Situationen, in denen sie fremde Menschen trifft, aus dem Weg zu gehen. Sie beißt sich so sehr in ihr Studium, am Ende schließt sie es mit Auszeichnung ab.

Und auch beruflich läuft es besser. Sie schreibt viel und wird jetzt auch öfter gebucht als Rednerin. Spricht in Schulen über sexuelle Aufklärung, sexuelle Gesundheit, erklärt Abtreibungen und so weiter. Der berufliche Erfolg stachelt den Stalker noch mehr an. Der will sie weiterhin fertig machen, postet Artikel und schickt Kollegen Links zu den Nacktfotos.

Lena legt sich in Deutschland eine neue Identität zu

Als Patrick sein Ph.D. fertig hat, ist beiden klar: Wir müssen hier weg – am besten komplett weg aus den USA. Und weil es damals im Sommer in Deutschland so schön war, und weil Patrick sowieso Deutscher ist, entschließen sie sich, nach Berlin zu gehen.

In Berlin tut Lena etwas, was eigentlich mal die Idee für ein Buch war:

Lena: At the time I would write a memoir from the perspective of a fictional character who I would make up and then live as. And this fictional character I came up with was Elle Peril and I didn't really know who she would be exactly but I knew that one thing she had to do was work as a nude model. And this is directly related to the revenge porn of course I wanted to find a way to make peace with that part of my past.

Elle Peril – so sollte die Hauptfigur ihres Romans heißen, eine fiktionale Figur, die als Aktmodell arbeitet. So, das war der Plan, wollte sie sich selbst mit dem konfrontieren, was ihr passiert ist – mit den Nacktbildern, dem Stalking, und wozu das geführt hat.

In Berlin angekommen, merkt sie: Die räumliche Distanz reicht nicht, sie braucht noch mehr Abstand, damit sie sich endlich wieder frei fühlen kann. Sie lässt Lena Chen hinter sich und nimmt eine neue Identität an. Die von Elle Peril.

"So the added benefit of having this alter ego was also that I could live with some freedom and not feel like I was being watched."
Lena Chen über Elle Peril, ihre andere Identität

Allen Leuten, die sie trifft, stellt sie sich also als Elle vor, sie meldet sich neu in Social Media an. Das Gefühl, verfolgt und beobachtet zu werden, verschwindet langsam. Und Lena hat allmählich das Gefühl: Als Elle Peril ist sie endlich nicht mehr fremdbestimmt.

In Lenas Plänen sollte die fiktive Romanfigur Elle Peril ja als Nacktmodel arbeiten. Also fängt Lena/Elle auch in Berlin an, als Nacktmodel zu arbeiten. Sie will sich mit ihrer Vergangenheit konfrontieren, indem sie sich nackt fotografieren lässt – und sie will die Macht über ihren Körper zurückgewinnen, indem sie sich ausdrücklich von Männern fotografieren lässt, bei Fotoshoots, die klare Regeln haben, und wenn es vorbei ist, ist es vorbei – und hat keine schrecklichen Folgen. So der Plan.

Lena: So I find it quite safe and psychologically comforting to be like OK I'm spending one two three hours with this guy. I show up I do this job and when it's over it's over.

Und je öfter sie sich vor der Kamera auszieht, desto besser geht es ihr. Sie merkt: Es funktioniert. Sie kann ihre Angst vor fremden Männern langsam überwinden. Die Aktbilder werden sogar ausgestellt und Lena gewinnt Stück für Stück die Kontrolle über ihren Körper zurück.

"Of course it was also very gratifying to have images of my body being used as part of someone's creative process and for people to also enjoy these images because in the past images of me were used to humiliate me and they were used in a way where I felt like I had no control."
Lena Chen

So geht das eine ganze Zeit lang gut. Lena ist Elle Peril, die als Nacktmodel arbeitet, sie schreibt, sie lebt zusammen mit Patrick, hat viele neue Freunde, und genießt die neu gewonnene Freiheit in Berlin.

Nach zweieinhalb Jahren holt sie die Panik wieder ein

Der Stalker hat den Identitätswechsel von Lena zu Elle offenbar nicht mitbekommen, die Attacken werden weniger, irgendwann verpuffen sie ganz. Lena Chen ist offline, und in Berlin juckt es sie auch nicht mehr so. Denn hier ist sie Elle, eine Identität ohne Vergangenheit, und ohne echte Verpflichtungen, aber mit einem Job und ungefähr 1000 Facebook-Freunden.

Lena: I'm accountable to nobody here you know it doesn't feel like there are consequences to my actions. And it freed me from all the expectations attached with the old identity.

Ja, und eigentlich könnte die Geschichte hier vorbei sein. Ist sie aber nicht. Nach zweieinhalb Jahren als Elle Peril merkt Lena: Das Leben mit zwei verschiedenen Identitäten ist anstrengend. Wenn jemand auf einer Party sich ein bisschen mehr für ihre Vergangenheit interessiert, kommt plötzlich die Panik zurück.

Die gleiche Panik, die Lena zum ersten Mal hatte, als sie im Flieger von L.A. nach Boston saß und wusste: Ganz Harvard hat sich die Sexfotos von ihr angeschaut. 

2015 in Berlin hat Lena wieder dieses Gefühl, verfolgt zu werden. Beobachtet zu werden. Ihre Ängste sind jetzt schlimmer als je zuvor: Verfolgungswahn.

"I think that the government is tracking my activity on my computer or my phone that someone is watching me all the time I start to have psychotic delusions essentially."
Lena Chen hat das Gefühl, verfolgt zu werden

Lena ist überzeugt davon, dass die Regierung, und zwar nicht nur die deutsche, sondern auch die der USA, die chinesische, und die britische Regierung, dass die hinter ihr her sind. Es ist für sie real. Es gibt Tage, da denkt sie an Selbstmord. 

Acht Jahre nach dem Revenge Porn und dem Beginn der Cyber-Attacken, und nach zweieinhalb Jahren Doppelidentität merkt Lena: Sie hat zwar als Elle Peril eine neue Identität angenommen – aber sie hat null mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen. Sie hat einfach nur versucht, sie auszublenden.

Trotz des Verfolgungswahn kapiert sie: auch wenn es richtig anstrengend und schlimm werden könnte, sie  muss dringend aufräumen, sonst ist es irgendwann zu spät. 

Lena: I changed my life completely when I was having this breakdown. One of the things that happened was I broke up with my boyfriend at the time and I moved out. I also went back to California and that was really important for me because I think I need to be back in the place where I started to recover my identity and to spend time around people who really knew me before all of this trauma had occurred.

Sie trennt sich von Patrick und geht für eine Weile nach Hause in die USA – zurück nach Kalifornien, zu ihrer Familie. Zu den Menschen, die sie kannten, bevor sie nach Harvard gegangen ist. Zurück zu ihrer richtigen Identität – Lena Chen, die fleißige Tochter chinesischer Einwanderer.

Lena macht feministische Kunst - in Berlin hat sie ihre erste Ausstellung

Sie verbringt Zeit mit ihrer Familie und mit Freunden, die sie schon kannte, bevor das mit den Nacktfotos alles losging. Ihren Eltern gegenüber kann sie sich nicht öffnen. Sie sagt der Grund dafür ist eine Mischung aus einer streng konservativ-chinesischen „Über sowas spricht man nicht“-Haltung, und andererseits sagt sie, sei es tatsächlich schwierig für sie, die ganze Geschichte auf chinesisch auszudrücken. 

Also schreibt sie. Konsequent führt sie Tagebuch, verarbeitet auch in künstlerischen Texten all die Erlebnisse und merkt langsam, dass es ihr nicht reicht, als Nacktmodel zu arbeiten, sondern dass sie schreiben und Kunst machen will.

Lena Chen säugt einen Mann für ein Fotoshooting
© Molly Baber
Über die Fotos will Lena die Macht über ihren Körper zurückgewinnen.

In der Zeit fliegt sie immer mal wieder nach Berlin. Dort erzählt sie ihren Freunden, dass sie eigentlich Lena Chen heißt, dass Elle Peril nur eine Fake-Identität ist. Und sie erzählt, was passiert ist. Das hilft. Immer mal wieder trägt sie hier und da ein Gedicht vor, macht Spoken-Word-Performances, die sich alle um das Erlebte, um Missbrauch, Trauma und Befreiung drehen. Sie merkt, diese Art von feministischer Kunst, das macht sie glücklich.

Im Mai 2017 darf sie dann eine eigene Ausstellung in einer Berliner Galerie machen. "Lena Chen: The Life & Death of Elle Peril" heißt die Ausstellung, die viel mehr eine Show ist – mit Texten, Bildern und Spoken-Word-Performances. Bei all dem geht es um ihre Geschichte, die mit den Nacktfotos angefangen hat, die ihr Exfreund von ihr veröffentlicht hat. 

Lena: And once the show actually debuted then it felt like a huge relief because it was all really out there in the open. There were a couple of articles about the show people who didn't know what I was up to before in the states finally got a sense of what I'd been doing and yeah I just stopped hiding you know as I stopped hiding who Lena was and as Lena I stopped hiding who Elle was.

Seitdem ist sie wieder Lena Chen, Tochter chinesischer Eltern, Harvardabsolventin und Performancekünstlerin.

Weder der Exfreund noch der Stalker - seitdem hat keiner mehr Macht über sie. Im Gegenteil: Ihre Vergangenheit, Revenge Porn, das Stalking, sind heute Teil ihres Lebens. 

"I really, really feel grateful actually for all the crazy things that happened to me because I'm a performance artist now and I mean that's probably the craziest thing of all.
I never ever ever could have conceived that this is what I'd be doing. This is where I'd be sitting. This is the life I'd be leading. And now I feel completely free. And it's a miracle like I think I'm really, really lucky."
Lena Chen

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Shownotes
Nach Revenge Porn
Lena Chen holt sich ihren Körper zurück
vom 27. Juli 2018
Autor: 
Benjamin Weber