In Kim de l'Horizons Debüt "Blutbuch" schreibt ein junger Mensch gegen das Schweigen an. Selbst nicht in der Lage über das zu sprechen, was ihn wirklich beschäftigt, wählt dieser Mensch, das Schreiben, um eben nicht länger zu schweigen.

Es entsteht etwas, das mehr ist als ein Roman, als eine spannende Geschichte. Es ist eine Analyse. Ein Tagebuch. Auch eine Recherche. Und ein Geständnis. Vielleicht ist es sogar ein Abschiedsbrief. Ein Abschiedsbrief von der Zeit vor dem Schreiben. Und von der Hauptfigur, der allgegenwärtigen, monströs-mächtigen Großmutter – im Buch wird sie Großmeer genannt.

Kim de l'Horizon im Interview auf der Frankfurter Buchmesse
© imago | Hartenfelser
Kim de l'Horizon im Interview auf der Frankfurter Buchmesse

Und so wie sich der namenlose Erzählende qualvoll durch eigene und fremde Erinnerungen, durch Gefühle, Gerüche und Berührungen, durch Schichten von Stoff, durch dornige Himbeerstauden und vergilbte Fotografien in uralten Alben gräbt, so gräbt der oder die Lesende unweigerlich mit.

Schnell wird beim Lesen deutlich, dass der Mensch, der da die Beziehung zu seiner Großmutter seziert, dafür benutzt wurde, dass auf und in dieser Person etwas abgeladen wurde, was ein Kind nicht tragen müssen sollte: ein schweres Erbe.

Die eigene Leere mit der Anwesenheit des Enkelkindes füllen

So hat die Großmutter dem Kind beispielsweise nicht das Stricken beigebracht, damit das Kind stricken kann, sondern damit das Kind auf dem Schoß der Großmutter sitzt, ganz dicht. Und damit die Stricknadeln in den kleinen, zarten Kinderhänden von den großen, rauen Großmutterhänden geführt werden können.

Damit die Großmutter sich durch die Anwesenheit ihres Enkelkindes spüren kann und dabei vergisst, was sie vermisst. Das Kind ist brav und fügt sich. Aber es fürchtet sich bei jedem Besuch bei der Großmutter.

"Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ."
Jury des Deutschen Buchpreises über die Autofiktion "Blutbuch" von Kim de l'Horizon

Die Großmutter oder Großmeer, wie Kim de l’Horizon sie im Buch meist nennt, hat den Körper des Enkelkindes nie als das akzeptiert, was er ist. Ein Körper, der nicht ihr gehört. Der nicht ihr Körper ist, der nur sich selbst gehört, der selbst bestimmt, wie er wahrgenommen und berührt werden möchte. Der selbst entscheidet, welches Geschlecht er hat oder ob er überhaupt eines hat.

Das Buch:

"Blutbuch" von Kim de l'Horizon, Dumont, 336 Seiten, gebundene Ausgabe: 24 Euro, E-Book: 20 Euro; ET: 19.07.2022

Shownotes
Das perfekte Buch für den Moment...
…wenn alle über den deutschen Buchpreis reden
vom 23. Oktober 2022
Autorin: 
Lydia Herms