Thomas Mann: der Großschriftsteller, der Mann im Stehkragen, der großbürgerliche Nobelpreisträger? Der Literaturwissenschaftler Kai Sina beleuchtet einen anderen Aspekt: Thomas Mann, der politisch aktive Mensch.
Am 6. Juni 1875 kommt Thomas Mann in Lübeck zur Welt. 150 Jahre nach seiner Geburt wird es Zeit, eine Facette des Autors wiederzuentdecken, die Manns Zeitgenossen noch durchaus geläufig war, die von der literaturwissenschaftlichen Forschung aber lange gemieden wurde, meint der Literaturwissenschaftler Kai Sina.
Und zwar die eines erklärten und entschlossenen Gegners des Nationalsozialismus in Deutschland.
"Sein Status als öffentlicher Widersacher des Nationalsozialismus war unumkehrbar geworden."
Bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 erhält die NSDAP 18,3 Prozent. Eine Zäsur für Thomas Mann. Dieser Wahlerfolg veranlasst ihn zur "Deutschen Ansprache. Appell an die Vernunft" am 17. Oktober 1930 in Berlin.

"Es ist unverkennbar eine Rhetorik des Angriffs, des 'clean hit'. Schnell, hart, punktgenau."
Am 3. Dezember 1936 wird Mann die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, seit 1933 lebt er als Exilant erst in der Schweiz, dann in den USA. Hier nimmt er ab 1940 58 Radioansprachen an "Deutsche Hörer!" auf, die der German Service der BBC, "der meistgehörte Feindsender in Nazi-Deutschland", ausstrahlt.
Um seine Stimme ans Ohr der Deutschen zu bringen, wird erheblicher Aufwand betrieben: Mann spricht seine um die acht Minuten langen Ansprachen in einem Studio in Hollywood ein, sie werden auf Schallplatte gepresst, nach New York gebracht und von dort per Telefon nach London übertragen.
"Er war erstaunlich gut informiert dort im kalifornischen Exil, wozu nicht nur eine Vielzahl internationaler Presseberichte beigetragen haben, sondern auch das Briefing durch britische und amerikanische Geheimdienste."
Am 20. Januar 1942 findet die sogenannte Wannsee-Konferenz statt, auf der die Ermordung der europäischen Juden ("Endlösung der Judenfrage") behördlich besprochen und organisiert wird.
Schon Ende Januar 1942 prangert Thomas Mann in einer seiner Radioansprachen die Vergasung niederländischer Juden an. In der Ansprache vom 27. September 1942 spricht er über die massenhafte Ermordung der Juden im Warschauer Ghetto.
Thomas Manns moralischer Appell im Radio
Im Angesicht der ungeheuerlichen Verbrechen versucht Thomas Mann, seine Zuhörerinnen und Zuhörer moralisch anzusprechen und zu engagieren. Er fragt: "Wisst ihr Deutsche das? Und wie findet ihr das?" Rhetorisch sei das "ebenso raffiniert wie suggestiv", sagt Kai Sina – weil man die zweite Frage bei einer solchen Formulierung praktisch nur auf eine einzige Art und Weise beantworten könne.
"Gleich wie man die erste Frage beantwortet, gibt es bei der Antwort auf die zweite keinerlei Spielraum. Soweit man über ein moralisches Restempfinden verfügt."
Auch die britischen Luftschläge gegen "Hitlerland" spricht Mann an, angesichts der Bombardierung seiner "Vaterstadt" Lübeck am 29. März 1942: "Lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden gelitten haben. Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss."
"Ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss."
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Thomas Mann zu einem engagierten Unterstützer der zionistischen Bewegung. Sina begreift Manns Eintreten für eine israelische Staatsgründung als "realpolitische Kehrseite seiner Anprangerung der Shoah vor den Deutschen und der Weltöffentlichkeit".
Kai Sina ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik (mit dem Schwerpunkt Transatlantische Literaturgeschichte) an der Universität Münster. 2024 erschien sein Buch "Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist." Seinen gleichnamigen Vortrag hat er am 13. Mai 2025 auf Einladung des Einstein Forums in Potsdam gehalten.
- Vorbemerkung
- Appell an die Vernunft, Rede vom 17. Oktober 1930
- Brief an die philosophische Fakultät der Universität Bonn, Dezember 1936
- "Deutsche Hörer!", Radioansprachen aus dem Exil, 1940 - 1945
- Thomas Mann und der Zionismus
- Fazit