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Wir fühlen mit einer Fußballmannschaft, die in Thailand in einer Höhle eingeschlossen ist. Aber über einen Mann, der vor einem Bankautomaten zusammenbricht, steigen wir einfach drüber. Warum?

Die Journalistin und Autorin Melanie Mühl formuliert es etwas zugespitzt: "Thailand war das perfekte Unglück für unser Mitgefühl." Das ist nicht kalt, sondern analytisch gemeint. "Es waren Kinder beteiligt, die sozusagen lebendig begraben waren. Außerdem war der Ausgang der Geschichte ungewiss", erklärt Mühl. 

Faktoren für Mitgefühl

Und noch ein psychologischer Faktor komme hinzu: Die Distanz zum Geschehen könne dafür sorgen, dass man das Gefühl habe, das Schicksal der Kinder habe nichts mit unserem Leben hier in Europa zu tun. "Außerdem war unser Mitgefühl nur eine Zeit lang in Anspruch genommen. Die Rettungsaktion fand statt – und dann war das Ereignis abgeschlossen."

"Hygge ist Euphemismus für Abschottung."
Melanie Mühl, Journalistin und Buchautorin

Melanie Mühl ist Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autorin. Für ihr aktuelles Buch "Mitfühlen. Über eine wichtige Fähigkeit in unruhigen Zeiten" hat sie sich auf die Suche gemacht nach Ereignissen, in denen wir Mitgefühl empfinden. Ihre Beobachtung: Oftmals scheint Mitgefühl in unserem Alltag direkt vor unserer Haustür zu fehlen. 

Fehlendes Mitgefühl im Alltag

Das zeige etwa ein Fall im Oktober 2016, den sie auch in ihrem Buch beschreibt: In Essen bricht ein alter Mann vor einem Bankautomaten zusammen. Die Aufzeichnungen der Überwachungskamera zeigen, wie mehrere Menschen auf dem Weg zum Geldabheben einfach über den Mann hinweg steigen. 

Bilder einer Überwachungskamera: Ein Bankkunde steigt über einen am Boden liegenden Mann hinweg.
© dpa
Essen im Oktober 2017: Bankkunden steigen im Vorraum einer Bank über einen hilflosen Mann hinweg, der am Boden liegt. Erst nach 20 Minuten hilft ihm jemand. Der Mann wird in ein Krankenhaus gebracht, wo er eine Woche später stirbt.

Später sagen einige von ihnen aus, sie seien davon ausgegangen, dass der Mann ein Obdachloser ist. Erst nach 20 Minuten holt jemand Hilfe. Der Mann stirbt eine Woche später im Krankenhaus. Drei Personen werden schließlich wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen verurteilt.

Melanie Mühl: Mitgefühl bringt uns zum Handeln

Viele Menschen sind recht gut darin, sich in ihrem eigenen Alltag emotional abzuschotten, glaubt Melanie Mühl, nach dem Motto: Die Welt ist so kompliziert und überfordernd, da ist es einfacher, gar nicht erst hinzuschauen. Allein Mitleid oder Empathie helfen ihrer Ansicht nach aber auch nicht weiter. Wichtig sei Mitgefühl: "Mitgefühl ist, wenn ich berührt bin, dann darüber nachdenke und ins Handeln komme." Mitgefühl versteht sie in diesem Sinne als produktiv. Und nur so lasse sich eine Situation auch tatsächlich verbessern.

In Eine Stunde Talk erzählt Melanie Mühl, wann sie Mitgefühl empfindet, wie sie damit umgeht und wie wir Mitgefühl trainieren können. 

Mehr zum Thema:

Wir freuen uns über eure Mails an mail@deutschlandfunknova.de

Shownotes
Autorin Melanie Mühl
"Mitgefühl ist etwas Konstruktives!“
vom 26. September 2018
Moderator: 
Sven Preger
Gast: 
Melanie Mühl, Journalistin und Buchautorin