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Die Geschichten, die wir uns über uns erzählen, sind mächtig – und gefährlich. Im Nahostkonflikt etwa sind alle Parteien überzeugt, historisch im Recht zu sein. Narrative könnten aber auch eine Chance sein. Ein Vortrag des Islamwissenschaftlers Florian Zemmin

Der Nahostkonflikt dauert schon lange an, die Verletzungen auf beiden Seiten sitzen tief. Und die Meinungen über den Konflikt sind festgefahren. Es scheint so gut wie aussichtslos, dass jemals eine wirklich nachhaltige Lösung möglich sein könnte.

Diese Woche (Stand: 17. Januar 2025) wurde zwar eine Waffenruhe zwischen Israel und Hamas angekündigt, was für viele Menschen ein Lichtblick ist. Aber noch ist nicht abzusehen, wie die Waffenruhe umgesetzt wird und ob sich anschließend ein nachhaltiger Frieden etablieren lässt. Es bleibt weiterhin offen, wie es in Israel, in Gaza und in der gesamten Region weitergeht.

Historische Narrative zementieren Konflikte

Ein Teil des Problems sind die Narrative, auf die sich die jeweiligen Positionen stützen. Viele Israelis wie Palästinenser sehen sich historisch im Recht, begründen Ansprüche in der Gegenwart aus der Geschichte. Aber welche Geschichte ist das überhaupt?

"Geschichte ist nicht einfach abgeschlossene Vergangenheit, die feststeht und von gegenwärtigen Historikern nach und nach ermittelt wird. Vielmehr ist es aus der Gegenwart heraus, dass bestimmte Phänomene mit historischer Relevanz ausgestattet werden."
Florian Zemmin, Islamwissenschaftler, Freie Universität Berlin

Die eine Geschichte gibt es nicht, mahnt Florian Zemmin – vielmehr gibt es Geschichten, die als historisch wahr gedeutet werden. Und viele dieser Erzählungen seien einseitig. Und widersprüchlich: "Israelische und palästinensische nationale Narrative stehen sich nicht nur gegenüber, sondern schließen sich wechselseitig nahezu aus", so der Islamwissenschaftler.

Florian Zemmin, Professor für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies
© privat
Florian Zemmin, Professor für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies

Florian Zemmin plädiert dafür, verschiedene Perspektiven möglichst wertfrei zur Kenntnis zu nehmen. Er ordnet die verschiedenen historischen Interpretationen ein und liefert historische Hintergründe zum aktuellen Konflikt.

"In dem gegenwärtigen Konflikt halte ich es sogar für eine Aufgabe von Menschen, die nicht unmittelbar von Gewalt und Trauma betroffen sind, beidseitig empathisch zu sein."
Florian Zemmin, Islamwissenschaftler, Freie Universität Berlin

"Verschiedene Erfahrungen und Darstellungen zur Kenntnis zu nehmen, heißt nicht, dass eine Synthese zwischen diesen möglich ist", räumt er dabei ein. Es geht ihm vielmehr ums Zuhören und den Versuch, nachzuvollziehen, sagt er: "Man kann dann immer noch andere Sichtweisen haben." Das Ziel: Versachlichung.

"Wenn Sie Formulierungen hören wie 'das Wesen des Zionismus', 'die Natur des israelischen Staates', 'das palästinensische Volk ist' oder 'Araber sind' sollte Sie das zumindest skeptisch machen."
Florian Zemmin, Islamwissenschaftler, Freie Universität Berlin

Und Florian Zemmin bietet alternative Narrative an. Er erinnert an Zeiten, in denen in der Region verschiedene Gruppen friedlich, teils sogar freundschaftlich zusammenlebten. "Die Geschichte von Zusammenleben oder zumindest von Ko-Existenz kann eine Inspiration für die Gegenwart sein", hofft der Islamwissenschaftler.

"Zugleich arabisch und jüdisch zu sein, war lange Zeit kein Widerspruch. Die Erinnerung daran ist durchaus eine Inspiration und kann helfen, gegenwärtig verhärtete Identitäten aufzubrechen."
Florian Zemmin, Islamwissenschaftler, Freie Universität Berlin

Florian Zemmin ist Professor für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Seinen Vortrag mit dem Titel "Konflikt ohne Ende? Welche Geschichte(n) wir heute für die Zukunft brauchen" hat er ursprünglich am 19. November 2024 im Rahmen der Ringvorlesung "Die Vielfalt Palästinas – eine kulturelle Zeitreise" an der FU Berlin gehalten. Für uns hat er ihn extra noch mal eingesprochen

Quellen: Die fünf wichtigsten Quellen findet Ihr unter dem Artikel. Wenn ihr die komplette Literaturliste haben wollt, schreibt an mail@deutschlandfunknova.de.

Shownotes
Narrative im Nahostkonflikt
Neue Erzählungen für eine friedlichere Zukunft
vom 17. Januar 2025
Moderation: 
Katrin Ohlendorf, Deutschlandfunk Nova
Vortragender: 
Florian Zemmin, Freien Universität Berlin und Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies
Quellen aus der Folge:
  • Asseburg, Muriel und Jan Busse: Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven, München: C.H. Beck, 2016.
  • Black, Ian: Enemies and Neighbours: Arabs and Jews in Palestine and Israel, 1917-2017, London: Penguin 2018.
  • Brenner, Michael: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute, München: C. H. Beck, 2016.
  • Khalidi, Rashid: Palestinian Identity: The Construction of Modern National Consciousness, New York: Columbia University Press, 1997.
  • Segev, Tom: 1967 : Israels zweite Geburt. München: Siedler, 2007.