Liegt vor uns ein Apfel oder sind es fünf Stück? Mengen einschätzen – das können wir intuitiv. Schon Neugeborene können das. Und auch Tiere haben so einen Zahlensinn. Ein Team von Neurowissenschaftlern sagt jetzt: Wahrscheinlich entwickelt sich dieser Sinn ganz von selbst.

Die Forschenden kommen zu diesem Schluss, weil sie dieses Phänomen auch bei einem künstlichen Gehirn beobachtet haben – dieses künstliche Gehirn wurde im Computer simuliert. Aber bereits davor hatten die Neurowissenschaftler eine These: Dass die Fähigkeit, Mengen einzuschätzen, etwas mit dem Sehen von Objekten zu tun hat.

Es geht genauer um das Erkennenlernen von Gegenständen. Daraus entwickle sich das Verständnis, wie viele Gegenstände zu sehen sind. Die Fähigkeit sei quasi ein Nebenprodukt, das sich von alleine ergebe. Und genau diese These scheint das künstliche Gehirn zu bestätigen.

"Die Forscher hatten die These, dass die Fähigkeit, Mengen und Zahlen einzuschätzen, etwas mit dem Sehen von Objekten zu tun hat."
Anne Tepper, Deutschlandfunk-Nova-Nachrichtenredaktion

Der erste Teil des Experiments: Das Erkennen und Einordnen von Objekten

Die beiden deutschen Neurowissenschaftler und ihre Kollegin aus den USA haben ein künstliches neuronales Netzwerk gebaut. Dieses funktioniert ähnlich wie das menschliche Sehzentrum – nur dass es eben über einen Computer läuft. Das Netzwerk hat zwei Bereiche:

  • Der erste Bereich wurde darauf trainiert, Gegenstände zu erkennen. Das Netzwerk wurde mit mehr als einer Million Fotos gefüttert und lernte dann zu erkennen, dass ein Objekt zum Beispiel eine Halskette ist und ein anderes ein Schnauzer und wieder ein anderes eine Schildkröte.
  • Der zweite Bereich des Netzwerks lernte, die Gegenstände einer bestimmten Kategorie zuzuordnen. Das klappte erwartungsgemäß ganz gut. Und tatsächlich: Ganz nebenbei entwickelte das künstliche Gehirn auch einen Zahlensinn.

        Der zweite Teil des Experiments: Die Bildung von Mengenneuronen

        Die Forschenden haben dem künstlichen Gehirn im zweiten Teil des Experiments keine Fotos mehr von Hunden oder Schildkröten vorgelegt, sondern Muster mit bis zu 30 Punkten. Dann haben sie untersucht, was sich währenddessen in dem künstlichen Gehirn tut. Ähnlich wie beim Menschen besteht es aus lauter Neuronen – allerdings virtuell.

        Im ersten Teil des Experiments, beim Erkennen und Einordnen der Objekte, hatten die Neuronen jeweils die Rolle eines Merkmals übernommen. Also hell, dunkel, kantig, viereckig, rund – jedes Neuron repräsentierte eine Eigenschaft. Gleichzeitig lernte das Netzwerk, welche verschiedenen Eigenschaften zusammen kommen, wenn auf einem Bild zum Beispiel ein Hund zu sehen ist oder eine Kette. Dann sprangen die jeweiligen Neuronen an.

        Und genauso wie es Hellneuronen gibt, oder Viereckigneuronen, haben sich im Netzwerk auch Zahlenneuronen ausgebildet. Und die machten immerhin etwa zehn Prozent der Neuronen aus. Und das konnte das Forschungsteam im zweiten Teil des Experiments erkennen.

        Wurde dem Computer eine bestimmte Zahl von Punkten vorgelegt, arbeiteten die Zahlen-Neuronen

        Bei sechs Punkten zum Beispiel arbeitet das Neuron für sechs. Interessanterweise aber auch das für fünf und das für sieben – allerdings weniger intensiv. Und genau das passiert auch bei uns Menschen. Auch da springt bei sechs Punkten auch das Neuron für sieben und fünf mit an.

        "Wenn Du, Jenni, beispielsweise sechs Kartoffeln siehst, dann springt das Neuron für sechs an. Aber auch das für fünf und sieben."
        Anne Tepper, Deutschlandfunk-Nova-Nachrichtenredaktion

        Und es gibt noch mehr Ähnlichkeiten: Es ist für uns schwieriger zu sagen, ob da jetzt 21 oder 22 Punkte sind, als zu erkennen, ob es zehn oder 20 sind. Und: Es fiel auch dem künstlichen Netzwerk leichter, kleine Mengen richtig einzuschätzen als große.

        Das geht uns Menschen ja auch so: Drei Gegenstände können wir, ohne nachzudenken einschätzen. Bei zehn Einzelteilen müssen wir anfangen zu zählen. Und weil sich Mensch und Maschine in diesem Punkt so ähneln, gehen die Forschenden davon aus, dass sich auch beim Menschen der Zahlensinn aus dem Sehsinn ergibt. So wie in der Studie beim künstlichen Gehirn im Computer.

        Künstliche Gehirne können dennoch nicht zählen

        Zählen können künstliche Gehirne allerdings nicht. Es geht eher um ein Verständnis von Mengen. Die Forschenden sagen, dass es beim Zählen ja noch um eine Abfolge geht, erst eins dann zwei, dann drei dann vier uns so weiter. Bis jetzt haben sie geklärt, wie dieser Mengensinn genau entstehen könnte. Wie man lernt zu zählen, das muss allerdings in weiteren Studien untersucht werden.

        Shownotes
        Neurologie
        So entwickelt sich unser Sinn für Mengen
        vom 13. Mai 2019
        Moderatorin: 
        Jenny Gärtner
        Gesprächspartnerin: 
        Anne Tepper, Deutschlandfunk-Nova-Nachrichtenredaktion