Einflussreiche (populär)wissenschaftliche Arbeiten zum modernen Islam und der sogenannten muslimischen Welt sind noch immer überwiegend auf den Westen bezogen, sagt der Islamwissenschaftler Simon W. Fuchs. Und das sei ein Problem.

Europa ist in der Wissenschaft meistens das Modell, an dem alles gemessen wird, kritisiert der Islamwissenschaftler Simon W. Fuchs. Und der Vergleich falle in der Regel nicht gut aus: Im Kontrast dazu werde etwa "der Islam" oder "die muslimische Welt" – beides lässt sich eigentlich nicht verallgemeinern – oft als Abweichung oder auch als eine Art Mängelexemplar betrachtet, so seine Diagnose.

Das wissenschaftliche Islambild ist verzerrt

Und das ist ein Problem, so Simon W. Fuchs. Denn es beeinflusse Forschungsfragen, damit auch Forschungsergebnisse und in der Folge auch gesellschaftliche Ansichten. An konkreten Beispielen zeigt er, mit welchen Argumenten Asymmetrien zwischen "muslimischer" und "westlicher" Welt begründet werden und welche wissenschaftlichen Traditionen dahinterstehen.

"Wenn Asymmetrien auftreten, tun wir gut daran, Europa nicht als Maß aller Dinge zu nehmen."
Simon W. Fuchs, Islamwissenschaftler

Fuchs klopft angebliche Ungleichheiten auf ihren Wahrheitsgehalt ab und widerlegt wiederkehrende Narrative mithilfe historischer Details – etwa die These, Muslime hätten kein Interesse an anderen Kulturen gehabt, es habe im Islam keine Vorstellung von Säkularität gegeben oder der Islam kenne Freiheit nur als juristischen Begriff.

"In der Wissenschaft etablierte Asymmetrien bestimmen und prägen den gesellschaftlichen Diskurs."
Simon W. Fuchs, Islamwissenschaftler

Seine Empfehlung, um nicht in "Vergleichsfallen", wie er es nennt, zu tappen: andere Fragen stellen und andere Quellen befragen – auch jenseits des europäischen Wissenskanons. Und anstatt nur nach Asymmetrien, also Unterschieden, auch mal nach Symmetrien suchen. Denn diese gebe es durchaus.

Simon W. Fuchs ist Islamwissenschaftler und derzeit Akademischer Rat auf Zeit am Orientalischen Seminar der Universität Freiburg. Ab Oktober 2023 tritt er eine Professur in Jerusalem an. Seinen Vortrag "A/Symmetrien, Europa und der globale Islam" hat er am 17. Januar 2023 im Rahmen des Kolloquiums "A/Symmetrie – Interdisziplinäre Perspektiven" gehalten. Veranstalter war die Junge Akademie, deren Mitglied er auch ist.

Shownotes
Problematische Narrative
Das schiefe Bild vom Islam in der Wissenschaft
vom 18. August 2023
Moderation: 
Katrin Ohlendorf
Vortragender: 
Simon W. Fuchs, Oriantalisches Seminar, Universität Freiburg
  • Einführung mit Infos zu Vortrag und Redner
  • Vortragsbeginn
  • Überblick über den Vortragsinhalt
  • Literatur-Beispiele für den Vergleich der "muslimischen" mit der "westlichen" Welt
  • Prüfung der Argumente für angebliche Unterschiede
  • Fazit
Quellen aus der Folge:
  • Thilo Sarrazin, Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (FinanzBuch Verlag: München, 2018)
  • Cemal Kafadar, “The Question of Ottoman Decline,” Harvard Middle East and Islamic Review 4, no. 1-2 (1997-1998): 30-75.
  • Bernard Lewis, Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor (Bergisch Gladbach: Lübbe, 2002).
  • Nabil Matar, In the Lands of the Christians. Arabic Travel Writing in the 17th Century (New York: Routledge, 2003)
  • Kathryn A. Schwartz, “Did Ottoman Sultans Ban Print?,” Book History 20, no. 6 (2017): 1-39.
  • Rushain Abbasi, “Did Premodern Muslims Distinguish the Religious and Secular? The Dīn-Dunyā Binary in Medieval Islamic Thought,” Journal of Islamic Studies 31, no. 2 (2020): 185-225.
  • Wael Abu-'Uksa, Freedom in the Arab World. Concepts and Ideologies in Arabic Thought in the Nineteenth Century (Cambridge, Cambridge University Press, 2016).
  • weitere Quellen auf Anfrage