In der Flüchtlingspolitik stellt sich immer wieder neu die Frage: Wer sind wir und wer sind die anderen? Der Kultursoziologe Jürgen Gerhards spricht von einem Trigger, der ausgelöst werde, wenn Menschen auswandern oder flüchten.

Genau diese Frage wird laut Jürgen Gerhards in allen Ländern dieser Welt höchst unterschiedlich beantwortet, obwohl die Genfer Flüchtlingskonvention weltweit gilt und somit rechtlich bindend ist. Singapur etwa betreibe nahezu eine Politik der geschlossenen Tür: Aufgenommen würden nur äußerst wenige, die – national-egoistisch gesehen – der dortigen Bevölkerung passten und nützlich seien.

Im Gegensatz dazu: Das vergleichsweise arme Uganda wird wegen seiner uneigennützig offenen Grenzen international hochgelobt.

Flüchtlingsrecht weltweit: Reform könnte unterschiedliche Handhabung ausgleichen

Nach Ansicht von Jürgen Gerhard muss das Flüchtlingsrecht grundlegend reformiert werden, weil es trotz einheitlicher Vorgaben zu unterschiedlich gehandhabt wird.

"Staaten dürfen Personen, die an ihre Tür klopfen, nicht zurückweisen und keinen Unterschied machen zwischen Religion, Hautfarbe und so weiter."
Jürgen Gerhards, Makrosoziologe

Deutlicher in seinen Forderungen wird Ruud Koopmans, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin. Er bewertet die europäische Flüchtlingspolitik als – so wörtlich – "bankrott".

Die Asylpolitik sei zu einem Lotteriespiel verkommen, bei dem oft junge, kräftige Männer den Weg nach Europa schafften, während in der überwiegenden Mehrzahl die tatsächlich Hilfsbedürftigen zurückbleiben. Obendrein habe dies Folgen für die europäischen Gesellschaften: "Ein Großteil der islamistischen Terroranschläge, mit denen Europa konfrontiert wurde, wird verübt von Flüchtlingen", so der Soziologe.

Konzeptlosigkeit der EU bei Asylrecht

Der Migrationsforscher Gerald Knaus schließt sich dieser Argumentation an.

"Die Konzeptionslosigkeit der EU beim Asylrecht ist kaum noch zu überbieten."
Gerald Knaus, Migrationsforscher

Unterm Strich, so Gerald Knaus, lasse sich angesichts dieser großen Ungleichbehandlung festhalten: "Wer es nach Europa schafft, der oder die kann davon ausgehen, dass er oder sie bleibt." Mit Gerechtigkeit hat das nur sehr wenig zu tun.

Die Vorträge

Jürgen Gerhards ist Principal Investigator am Exzellenzcluster SCRIPTS der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG. Seinen Vortrag "Was eine offene Flüchtlingspolitik mit liberalen Werten zu tun hat und warum manche Länder ihre Grenzen für Geflüchtete öffnen und andere nicht" hat er am 28. November 2022 an der FU Berlin gehalten. Er war Teil der Ringvorlesung "Auseinandersetzungen über und in liberale(n) Ordnungen: Zur Kritik und Zukunft des liberalen Skripts".

Ruud Koopmans ist Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), er leitet die Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung und forscht zur Asylpolitik. Seine Ergebnisse stellte er mit seinem Buch "Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukrainekrieg" am 16. Februar 2023 vor.

Gerald Knaus gilt als einer der führenden Migrationsforscher in Europa und ist Mitbegründer und Vorsitzender der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative". Er kommentiert die vorgetragenen Erkenntnise von Ruud Koopmans.

Shownotes
Flüchtlingspolitik
Das Wir und die anderen
vom 16. März 2023
Moderation: 
Hans-Jürgen Bartsch
Vortragender: 
Jürgen Gerhards, Makrosoziologe, Freie Universität Berlin
Vortragender: 
Ruud Koopmans, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin
Vortragender: 
Gerald Knaus, Migrationsforscher
  • Jürgen Gerhards, Makrosoziologe
  • Ruud Koopmans, Soziologe
  • Gerald Knaus, Migrationsforscher