Fundamentalistische und totalitäre Glaubensgemeinschaften unterdrücken ihre Anhänger mit Angst und Schrecken. Ein Bann, dem Aussteiger nur schwer entkommen.
Extreme Religiosität, bei der der Glaube das ganze Leben und den Alltag bestimmt, der Gläubige ständig im Sinne der Religion das "Richtige tun muss", führt beim Gläubige zu einer ständigen Bringschuld, erklärt der Psychologe Dieter Rohmann. Um die religiösen Ziele zu erreichen, gibt der Gläubige alles, ohne es jemals zu schaffen. Gleichzeitig wird das Selbstwertgefühl stark ausgeblendet, jeder Erfolg ist nur dem höheren Wesen zu verdanken und ist kein Verdienst des eigenen Könnens.
Absolute Unterdrückung
Sekten oder religiöse Kulte arbeiten bewusst mit den Mechanismen von Unterdrückung und Polarisierung. Angst ist während der Zugehörigkeit zur Kult- oder Sektengemeinschaft ein ständiger Begleiter, denn nur mit Angst und Schuld können sie ihre Mitglieder hörig und unterwürfig halten, erklärt Dieter Rohmann. Der Psychologe berät Aussteiger und kennt die Hürden, die sie überwinden müssen.
Versuchen Menschen aus fundamentalistische und totalitäre Glaubensgemeinschaften auszusteigen, haben sie alle mit den gleichen Problemen zu kämpfen.
"Die Ausstiegsproblematik ist eigentlich immer deshalb identisch, weil im hohen Maße Schuld und Angst eine Rolle spielen."
Die Aussteiger befinden sich in einem "Nicht-mehr-noch-nicht"-Zustand: Ihre alte Welt hat keinen Bestand mehr und das Neue ist noch nicht etabliert, beschreibt Dieter Rohmann den Übergang. Ihre alte Welt ist, aus unserer Sicht, eine Parallelwelt, die sich von unserer abgeschottet hat. Für die Sekte oder den Kult, ist unsere Welt schlecht und dämonisch. "In dem Moment, in dem ich diese Welt verlasse," sagt Dieter Rohmann, "muss ich mit einer Welt Freundschaft schließen, die eigentlich für mich von vorneherein als absolut negativ dargestellt worden ist."
"Dieses Spagat zwischen zwei Welt ist für jeden Aussteiger ein großes Problem, egal wo er herkommt."
Die Kultanhänger kommen aus einer monokausalen Welt, in der es für alles nur die eine richtige Antwort gibt. Der Psychologe versucht den Aussteigern einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen und konfrontiert sie mit multikausalen Möglichkeiten. Außerdem müssen die Aussteiger lernen, sich selbst Wert zu schätzen und Kontakte in ihrer neuen Welt zu knüpfen. Denn häufig entscheiden die Glaubensanhänger für sich allein, auszusteigen.
"Das ist ein Riesenproblem für alle Kultaussteiger, wenn die Eltern und Geschwister noch in der Gemeinschaft sind und ich als Einzelner herausgehe, falle ich in eine absolute soziale Isolation."
Der Ausstieg ist für Sektenanhänger vergleichbar mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Die Aussteiger trauern der auserwählten Gemeinschaft nach und es können sogar Depressionen auftreten. Deshalb, sagt Dieter Rohmann, ist es kaum möglich, den Ausstieg allein zu bewältigen. Wer auf professionellen Hilfe verzichtet, läuft leicht Gefahr, wieder in die alte Welt zurückzukehren.
"Es ist so, wie zwischen zwei Welten zu stehen und sich in einem Vakuum zu befinden."
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