Der russische Angriffskrieg dauert an. Unter welchen Bedingungen es Frieden für die Ukraine geben könnte, versucht die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff zu skizzieren. Einfache Lösungen gibt es für den Konflikt nicht.

In seiner Rede zur Lage der Nation sagte Wladimir Putin, dass Russland auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen sei. Putin hat keinen Willen, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu beenden, ehe er seine Ziele erreicht hat. Wenn es nach dem russischen Machthaber geht, soll es keinen unabhängigen ukrainischen Staat geben.

Und auch für die Ukraine ist klar, dass sie kein weiteres ukrainisches Staatsgebiet an Russland abtreten will. 2014 annektierte Russland nach einer bewaffneten Intervention der Streitkräfte die ukrainische Halbinsel Krim. Seit fast einem Jahr läuft der Krieg – ein Ende ist nicht in Sicht. In Deutschland gibt es unter anderem Stimmen von der AfD und aus der Linkspartei, die fordern, den russischen Angriffskrieg mit Friedensverhandlungen anstelle von Waffenlieferungen zu beenden.

Bisher keine Lösungsvorschläge vorhanden

Lösungsvorschläge wie Russland und die Ukraine an den Verhandlungstisch kommen, gibt es aber bislang nicht. Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff sagt im Interview, dass es für eine friedliche Lösung des Konflikts momentan sehr schlecht aussehe. Das hätte die Rede von US-Präsident Joe Biden im Garten des Warschauer Königspalast und Putins Rede zur Lage der Nation vor der russischen Föderationsversammlung in Moskau gezeigt.

"Biden und Putin haben in ihren Reden signalisieren wollen, dass sie nicht zurückweichen werden. Das Signal von Biden, unerwartet nach Warschau zu reisen, war stark."
Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin

Damit drücke der US-Präsident gegenüber Putin aus, "egal, was du machst, der Westen wird nicht zurückweichen. Wir werden die Ukraine so lange wie nötig unterstützen." Putin habe das Gleiche mit seiner Reaktion in seiner Rede gemacht, so Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. Demzufolge laute Putins Message: "Egal, was ihr auffahrt. Ich kann immer noch weiter eskalieren."

Nicole Deitelhoff hält es für sehr wahrscheinlich, dass der Krieg sehr lange weitergeführt wird. Dass eine der Kriegsparteien auf dem Schlachtfeld gewinnt oder dass der russische Präsident Wladimir Putin in nächster Zeit politisch abstürzt – beides hält die Politikwissenschaftlerin aktuell für unwahrscheinlich. Vielmehr befinden sich Russland und die Ukraine – die stellvertretend für die westliche Welt steht – in einem Abnutzungskrieg.

"Wir befinden uns schon jetzt in einem Abnutzungskrieg. Wir haben eine relativ stabile Frontlinie, an der sich nicht mehr viel tut. Die Verluste auf beiden Seiten steigen stark an."
Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin

Beide Seiten sind nicht offen für Verhandlungen

Die Situation vergleicht die Politikwissenschaftlerin mit der im I. Weltkrieg. Dies sehe sie vor allem an der Situation in der umkämpften Region Bachmut. Die Verluste auf beiden Seiten steigen an. "Russland benutzt seine Soldaten in der Region Bachmut gerade wie Kanonenfutter. Mit dem Körper der Soldaten kämpft Russland um jeden Millimeter Land. Das sind besonders Wagnersöldner", sagt Deitelhoff.

Die ukrainische Armee habe nicht so viele Nachschubmöglichkeiten wie das die russische Seite habe. Beide Parteien werden keine Zugeständnisse machen.

"Es ist völlig legitim, dass die Ukraine nicht bereit ist, territoriale Zugeständnisse zu machen. Die russische Seite will die widerrechtlich annektierten Gebiete in der Krim nicht der Ukraine überlassen. Es sieht so aus, dass sich beide Seiten an der Frontlinie immer weiter festsetzen und diese nicht mehr aufgeben und weiter verteidigen." Diese Situation könnte sich Nicole Deitelhoff zufolge über Jahre fortsetzen.

Für die Wissenschaftlerin ist es schwierig zu prognostizieren, was passieren müsste, damit eine der Parteien zurück an den Verhandlungstisch kehrt. "Entweder müsste die Ukraine tatsächlich auf die 'Gewinnerstraße' gelangen. Wenn Russland den Eindruck verliert, dass sie eine Chance hat, den Krieg noch aus militärischer Sicht zu entscheiden – dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie bereit für ernsthafte Verhandlungen sind."

Zugesagte Waffenlieferungen brauchen Zeit

Die Politikwissenschaftlerin erklärt: "Ernsthafte Verhandlungen würde bedeuten, dass sie bereit sind, von Maximalforderungen Abstand zu nehmen." Dass es in absehbarer Zeit dazu kommt, sei aber unwahrscheinlich. Zum eine liege das daran, dass zugesagte Waffenlieferungen eine gewisse Zeit brauchen, bis sie vor Ort sind – und damit das Kampfgeschehen beeinflussen können.

Zum anderen bestehe ein großes Nachschubproblem bei Waffenlieferungen hinsichtlich der Munition. Dass der Westen aktuell nicht ausreichend Munition in die Ukraine bekommt sei "ein wirklich virulentes Problem", meint Nicole Deitelhoff.

Lösung könnte sein, die territoriale Frage offen zu lassen

Um den Krieg diplomatisch zu beenden, müsse eine der beiden Seiten sich so unter Druck gesetzt fühlen, dass sie an den Verhandlungstisch kommen möchte. Die einzige Möglichkeit sei dann, die territoriale Frage offenzulassen. Das würde bedeuten, dass keine Entscheidung über territorial umstrittenes Gebiet getroffen würde, erklärt Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. Stattdessen sollten die Beteiligten die Entscheidung in die Hände der nächsten Generation zu legen.

"Beispielsweise könnte die Lösung sein, dass man für die vier Oblaste der Ukraine eine zivile UN-Verwaltung für die nächsten 10 bis 15 Jahre legt. Vielleicht sogar bis zu 20 Jahren."
Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin

In dieser Zeit könnte die Bevölkerung in den Wiederaufbau gehen. Neue Entscheider*innen in Russland und der Ukraine könnten heranwachsen und an die Macht kommen, um dann ein Referendum oder mehrere unter UN-Verwaltung über die Gebiete abzuhalten..

Shownotes
Angriffskrieg
Wie Russland und die Ukraine über Frieden verhandeln könnten
vom 22. Februar 2023
Moderation: 
Till Haase
Gesprächspartnerin: 
Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien Globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt und Geschäftsführende Direktorin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung