Wenn du so viel fern guckst, kriegst du viereckige Augen. Diejenigen unter uns, die diese elterliche Drohung zu hören bekommen haben, wissen: Das stimmt natürlich nicht. Doch wissenschaftlich gesehen ist an dem Spruch in gewisser Weise etwas dran. Ein Forscherteam um Ivan Kroupin von der London School of Economics hat festgestellt, dass die Formen um uns herum beeinflussen, wie wir die Welt sehen.
Zugegeben, das klingt so erst mal abstrakt. An dem Beispiel, das das Forscherteam um Ivan Kroupin angewandt hat, wird es aber schnell verständlicher, sagt Deutschlandfunk-Nova-Reporter Milan Procyk.
Leben in einer "eckigen Welt"
Die Forschenden haben im Rahmen ihrer Studie mit Menschen in den USA, Großbritannien und Namibia den sogenannten "coffer illusion", eine optische Täuschung durchgeführt. Sie zeigten den Proband*innen ein Bild mit einem gleichmäßigen Muster und wollten wissen, welche Formen die Proband*innen erkannten.
Das Ergebnis: Fast alle Proband*innen aus den USA und Großbritannien sahen zuerst Rechtecke. Eine andere Proband*innengruppe hingegen sah größtenteils Kreise. Außerdem konnte diese Gruppe mehr Details erkennen.
Diese Proband*innengruppe stammt aus Namibia, genauer gesagt handelte es sich um Himba, erklärt der Deutschlandfunk-Nova-Reporter. "Die Himba sind ein halbnomadisches Volk, das traditionell mit ihren Schafen, Ziegen und Rindern von Weide zu Weide zieht. In der Stadt sind sie nur selten." Außerdem seien die Häuser der Himba traditionell rund im Gegensatz zu modernen Häusern.
"Die meiste Zeit leben die Himba so wie schon auch ihre Vorfahren vor Hunderten von Jahren. Das wirkt sich darauf aus, wie sie die Welt sehen."
Die Himba zum Beispiel sehen nicht nur Kreise in der "coffer illusion". Die Forschenden haben festgestellt, dass sie sehr gut kleine Details in der Ferne fokussieren können. Das könnte damit zu tun haben, dass die Himba seit Generationen Hirten sind: Dabei ist es wichtig, die Tiere auf Distanz an kleinsten Details voneinander zu unterscheiden. Das Sehvermögen der Himba hängt also mit ihrer Lebensweise zusammen. Das ist beim Menschen in modernen Gesellschaften nicht anders.
"Die meisten Menschen lebten nicht in quadratischen Kästen und schauten auf quadratische Bildschirme – in einer Umgebung mit vielen standardisierten Objekten."
Reporter Milan Procyk erklärt die Forschungsergebnisse: "Menschen, die in modernen Gesellschaften leben, sehen in der 'coffer illusion' zuerst die Rechtecke, weil sie sich in einer standardisierten, also größtenteils aus Rechtecken bestehenden Umgebung bewegen." Die rechteckige Form begegnet uns schließlich überall: in Büchern, Betonplatten bis hin zur Tafel Schokolade. Hinzu komme, dass die Rechtecke in den letzten fünfzig Jahren zu flimmern begonnen haben – als Fernseher, Computer und Smartphone.
Wie wird sich eine standardisierte Welt auf unsere Sinne auswirken?
Psychologe Ivan Kroupin schlussfolgert aus seiner Studie: Die Welt sieht eben nicht gleich aus für alle. Das jedoch würden selbst Wissenschaftler*innen oft annehmen. Außerdem führen die Ergebnisse seiner Ansicht zu folgender Annahme:
Unser Sehvermögen, genauso wie unser Denken, unsere Bewegungen und Gefühle sind für eine Welt mit viel weniger Standardisierung, weniger Elektrizität, Helligkeit und Quadraten entworfen. Der Forscher sinniert: "Ich weiß also nicht, was passieren wird, aber ich denke, es ist vorhersehbar, dass es eine gewisse Diskrepanz geben wird zwischen dem, was unsere Systeme erwarten, und der Welt, die wir immer schneller erschaffen."
Hinweis: Das Bild zeigt eine Himba-Frau, die als Nomadin in Namibia lebt. Aufnahmedatum: 08.11.2017
