Alle unsere Körper sind verletzlich, doch Politik macht manche verwundbarer als andere, sagt die Philosophin Jule Govrin. Sie betrachtet soziale Ungleichheit anhand von Körpern. In ihrem Vortrag geht es um Fürsorge und Forderungen an die Politik.
Die philosophische Konstruktion des modernen Individuums als unabhängig und nicht auf Fürsorge angewiesen ist ein Phantasma, sagt Jule Govrin, Philosophin an der Uni Hildesheim.
Die bürgerlichen Männer der Neuzeit, die dieses Ideal am ehesten verkörperten, wurden tatsächlich von ihren Ehefrauen versorgt und profitierten von Sklaven, die in den Kolonien schufteten, erklärt die Philosophin.
"Alle Menschen kommen hilflos zur Welt und brauchen die Sorge anderer. Das hört zeitlebens nicht auf."
Jule Govrin setzt diesem Denken entgegen, dass wir alle verletzlich und von der Sorge anderer abhängig sind. Ihr philosophisches Anliegen ist es, Ungleichheit anhand von Körpern zu betrachten. Sie schließt dabei an Pierre Bourdieus Überlegungen zur Verkörperung von Ungleichheit. Der Deutschlandfunk geht in einer Sendung dem Denken des französischen Soziologen Bourdieu nach.
"Auf die eine oder andere Weise brauchen wir alle Fürsorge und Fürsprache, körperliche und affektive Nähe."
Verwundbarkeit ist etwas, das unsere Körper bei all ihrer Verschiedenheit verbindet, sagt Jule Govrin. Aber Verwundbarkeit ist nicht gleich verteilt, einige Menschen sind verwundbarer als andere, so die Philosophin weiter.
Es braucht eine Politik der Sorge und Solidarität
Mit dem Begriff der "strukturellen Verwundbarmachung" beschreibt Jule Govrin in Anlehnung an die Philosophin Judith Butler, wie Menschen durch politische Entscheidungen verletzlicher gemacht werden. Der Deutschlandfunk hat das Buch "Die Macht der Gewaltlosigkeit" der US-Amerikanerin Butler besprochen.
"Ungleichheit schlägt sich im Körper nieder, in Gesundheitszuständen und schlichtweg darin, dass Menschen mit wenig Geld früher sterben."
In ihrem Vortrag zeigt Jule Govrin anhand von drei Beispielen, wie sich Politik auf unsere Körper auswirkt: anhand der Corona-Pandemie, der Austeritätspolitik (der strengen Sparpolitik des Staates) und einer rechtsautoritären Politik.
Anschließend macht die Philosophin deutlich, wie sich aus dem Umstand, dass wir alle durch unsere Verletzlichkeit verbunden sind, ein Universalismus von unten ableiten lässt.
"Unsere Verwundbarkeit bindet unsere Körper aneinander, gefährdet uns, macht uns aber auch gemeinsam handlungsfähig."
Jule Govrin ist Philosophin und derzeit Gastprofessorin am Institut für Philosophie der Uni Hildesheim. Sie forscht zu Fragen der Gleichheit und zur politischen Ästhetik von Körpern. Ihren Vortrag "Politische Körper. Von Sorge und Solidarität" hielt sie am 7. November 2025 beim Festival Euro-Scene Leipzig.
- Einleitung
- Körper in der Politik
- Ideengeschichte politischer Körper
- Körperpolitiken der Gegenwart
- Gleichheit als verkörperte Praxis
- Schlussbemerkungen
