Polens neuer, rechtskonservativer Präsident Nawrocki wiederholt beim Antrittsbesuch in Berlin eine alte Forderung: Deutschland soll seinem Land Entschädigungen für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zahlen. Was steckt dahinter? Und was bietet die Bundesregierung stattdessen an?
September 1939: Die deutsche Wehrmacht überfällt Polen. Der Zweite Weltkrieg beginnt. Bis Kriegsende wird die Hauptstadt Warschau komplett zerstört. Infrastruktur, Wohnungen, Häuser liegen in Schutt und Asche. Kulturgüter aus 1.000 Jahren polnischer Geschichte werden zerstört oder geklaut.
Im ganzen Land bauen die Deutschen Arbeits- und Vernichtungslager auf. Fünf bis sechs Millionen Menschen verlieren ihr Leben, darunter drei Millionen polnische Juden. Die Mehrheit sind zivile Opfer. Viele weitere Millionen werden Witwen oder Waisen, müssen umsiedeln, sind Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder werden Überlebende der NS-Lager.
"Das begleitet uns ständig. Die Geschichte ist omnipräsent."
Diese Geschichte ist präsent für jede Polin, für jeden Polen, sagt Agnieszka Łada-Konefał, die stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt. In Familien werde bis heute darüber gesprochen. Menschen erinnern sich beispielsweise, wo einst das ein Haus gestanden hat, aus dem Angehörige vertrieben wurde, sagt sie – so wie ein Teil ihrer Familie in Breslau.
Antideutsche Rhetorik in Polen verfängt
Die Politikwissenschaftlerin erstellt für ihr Institut seit Jahren auch Studien zur deutsch-polnischen Beziehung und zu Reparationen. Die seien als Thema vor allem in den letzten zehn Jahren wieder mehr aufgekommen.
In der Zeit habe die rechtskonservative PiS-Regierung zahlreiche Reformen angestoßen – auch im innenpolitischen Bereich. Teil der politischen Strategie sei es dabei auch gewesen, in der Außenpolitik gezielt nach Gegnern zu suchen. Das habe auch als Ablenkungsmanöver von den innenpolitischen Problemen gedient, erklärte sie.
"Es kommen sofort Erinnerungen, die sehr negativ sind. Man muss nicht viel erklären. Deshalb funktioniert die antideutsche Rhetorik so gut in Polen."
Besonders das Thema deutscher Reparationen sei in den Medien stark präsent gewesen. Viele Polinnen und Polen empfänden sich bis heute als Opfer und verknüpften Deutschland mit negativen Erinnerungen. Die Botschaft, die Deutschen hätten dem Land Schaden zugefügt und dafür nichts bezahlt, sei leicht zu vermitteln – und deshalb funktioniere antideutsche Rhetorik in Polen besonders wirkungsvoll.
Studie zeigt: Deutsche Anerkennung polnischen Leids bleibt ungenügend
Empfinden heute tatsächlich viele Polinnen und Polen ein Gefühl von Ungerechtigkeit oder wird das Thema vor allem für den Wahlkampf instrumentalisiert? Agnieszka Łada-Konefał antwortet auf diese Frage mit einer ihrer eigenen Studien:
Das "Deutsch-Polnische Barometer" ist eine regelmäßig durchgeführte Wahrnehmungsumfrage in beiden Ländern. Darin wird erhoben, ob das Leid und die Opfer, die Polen im Laufe der Geschichte erlitten hat, von der deutschen Öffentlichkeit ausreichend anerkannt werden.
"Es ist nicht das Gefühl, die Deutschen müssen bezahlen, sondern sie wissen zu wenig über das, was wir gelitten haben."
Die Ergebnisse zeigen ein deutliches Gefälle: Während die Mehrheit der Deutschen die Frage bejaht, verneint sie mehr als die Hälfte der Polinnen und Polen. Das verdeutlich die Gefühlslage vieler Menschen in ihrem Land, so die Politikwissenschaftlerin.
Es gehe der Mehrheit nicht nur um finanzielle Forderungen, sondern vor allem auch um das Empfinden, dass die Deutschen zu wenig über das polnische Leid wissen, die Geschichte nicht ausreichend kennen und sich kaum darum kümmern. Dieses mangelnde Bewusstsein verletze viele.
Trotzdem verfängt das Thema Reparationen offenbar stark verfängt. Agnieszka Łada-Konefał erklärt das mit den Ergebnissen ihrer Studie: Zwar fordere nicht die
Mehrheit, dass Deutschland zahlen müsse, viele sähen auch andere Wege der Wiedergutmachung. Doch gleichzeitig sei die Meinung weit verbreitet, dass Deutschland bislang nicht genug getan habe, um das erlittene Unrecht auszugleichen.
Bundesregierung lehnt Reparationen ab
Die Frage nach deutschen Zahlungen an Polen wird unterschiedlich bewertet, erklärt Steffen Wurzel, Korrespondent in Berlin. Polens Präsident Karol Nawrocki und die rechtskonservative PiS-Partei vertreten die Auffassung, dass die Bundesrepublik Deutschland bisher nichts geleistet habe. Deutschland sei als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs verantwortlich für die während des Zweiten Weltkriegs angerichteten Schäden und müsse Reparationen zahlen.
"Die Bundesregierung lehnt ab und argumentiert mit einem Vertrag von 1953 zwischen der damaligen kommunistischen Volksrepublik Polen und der kommunistischen DDR."
Die Bundesregierung lehnt das ab. Sie beruft sich auf einen Vertrag von 1953 zwischen der kommunistischen Volksrepublik Polen und der DDR, in dem beide Seiten vereinbart haben, dass alle Ansprüche abgegolten sind. Polen habe auf weitere Reparationen verzichtet, so die Argumentation.
Berlin setzt auf andere Hilfswege für Polen
Deutschland hat in der Vergangenheit zwar Entschädigungen an Polen gezahlt, darunter Renten für ehemalige Zwangsarbeiter in Milliardenhöhe und humanitäre Hilfen. Diese Zahlungen liegen jedoch weit entfernt von den 1,3 Billionen Euro, die Polen aktuell verlangt. Die Forderung bezieht sich vor allem auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, den Wiederaufbau und den Verlust von Millionen polnischer Arbeitskräfte, die starben oder arbeitsunfähig wurden.
Vonseiten des deutschen Bundespräsidenten und Bundeskanzlers heißt es aber, das Thema sei abschließend geklärt. Es werde weder über die Summe noch über den Begriff Reparationen diskutiert, um keine weiteren Ansprüche entstehen zu lassen. Bei dem Besuch von Polens Präsident Nawrocki in Berlin gab es daher keine gemeinsamen Presseauftritte, nur schriftliche Statements – ungewöhnlich für europäische Staatsbesuche, so Steffen Wurzel.
"Was man aber tun möchte: Polen künftig Geld auf anderem Wege für andere Zwecke zukommen lassen."
Stattdessen signalisiert Deutschland Bereitschaft, Polen auf anderem Wege zu unterstützen. Nach Einschätzung von Steffen Wurzel könnten das etwa vergünstigte Waffenlieferungen, Unterstützung bei Drohnenabwehrsystemen an der polnischen Ostgrenze oder Angebote zum Kauf deutscher Kriegsschiffe, Panzer oder Kampfjets sein. Ziel sei, Polen Hilfen zukommen zu lassen, ohne den Begriff Reparationen zu verwenden und damit neue politische Forderungen zu provozieren.
Deutsche Hilfe auch symbolisch wichtig
Agnieszka Łada-Konefał betont, dass ein solches Angebot in Polen gut aufgenommen werden könnte. Deutschland könne Polen insbesondere bei Sicherheitsfragen unterstützen, etwa wegen Polens gemeinsamer Grenze mit Kaliningrad und seiner Nähe zu Belarus. "Das wäre symbolisch sehr wichtig, gerade wegen der Geschichte“, sagt sie.
Gleichzeitig dürfe man die noch lebenden Opfer des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen. Sie hätten ein Recht auf zumindest eine symbolische Entschädigung. Die Politikwissenschaftlerin verweist auf rund 70.000 Menschen, die in diese Gruppe fallen – eine vergleichsweise kleine Zahl, die gezielt berücksichtigt werden könnte.
Stärkung der polnischen Sicherheit wichtig
Agnieszka Łada-Konefał unterscheidet zwischen Reparationen und Entschädigungen. Reparationen seien finanzielle Mittel, die direkt in den Haushalt eines Landes fließen und vor allem von der PiS-Partei sowie dem polnischen Präsidenten gefordert werden. Entschädigungen hingegen gingen direkt an die Opfer, und hier zeige die Bundesregierung bereits Bereitschaft.
Gleichzeitig betont sie die Bedeutung einer verstärkten Sicherheitszusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen. Schon jetzt werde etwa die Stationierung von Patriot-Raketen an der polnischen Ostgrenze umgesetzt, doch das Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft.
Sie hält ein Paket aus Entschädigungen und Sicherheitsunterstützung für sinnvoll, wie es auch der polnische Außenminister Radosław Sikorski Anfang 2024 in Berlin forderte: kreative Lösungen, die sowohl die Opfer berücksichtigen als auch die Sicherheit Polens stärken.
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