Die Wahl in der Türkei stellt Deutsch-Türkinnen und Deutsch-Türken vor viele Entscheidungen – Erkut und Seher haben sie getroffen. Doch längst nicht alle Wahlberechtigten geben ihre Stimme ab, sagt Integrationsforscher Özgür Özvatan.

Zum ersten Mal nimmt er an der Wahl des türkischen Parlaments und des Präsidenten teil. Erkut sagt über sich selbst, dass er nicht so stark politisch interessiert ist. Er hat seine Stimme für die Opposition und den Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu (CHP) abgegeben – und damit vor allem für seine Freunde in der Türkei, wie er betont.

In der Türkei werden am 14.05.2023 ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. Ein Teil der in Deutschland lebenden türkisch-stämmigen Menschen, nur jene mit einem türkischen Pass, konnten bereits zuvor in einem türkischen Konsulat wählen.

Erkut wählt für seine Freunde in der Türkei

Dass Erkut überhaupt wählen war, hängt auch mit der Erdbebenkatastrophe im Süden der Türkei und der staatlichen Reaktion darauf zusammen. Erkut sagt: "Meine Freunde in der Türkei sind alle sehr aufgebracht, sehr unzufrieden. Und ich mache das in erster Linie wegen denen."

Erkut, 36, lebt in Berlin, hat zum ersten Mal seine Stimme bei einer Wahl in der Türkei abgegeben
© privat
Erkut, 36, lebt in Berlin und hat zum ersten Mal seine Stimme bei einer Türkei-Wahl abgegeben.
"Als ich die Stimme abgegeben habe und die Gedanken bei Familie und Freunden in der Türkei waren, habe ich mich schon gut gefühlt, dass ich für die Opposition stimme."
Erkut hat bei der Türkei-Wahl abgestimmt

In seinem familiären Umfeld kennt Erkut nur eine Person, die offen für eine weitere Amtszeit von Recep Tayyip Erdogan (AKP) ist. Zu 99 Prozent unterstützt auch seine Familie die Opposition und den Kandidaten Kemal Kilicdaroglu.

"Ich fand die Leute, die Recep Tayyip Erdogan gefolgt sind, einfach so ein bisschen naiv."
Erkuts Erinnerung an das Wahljahr 2018 und Erdogan-Wählende

Rückblickend hat er kein Verständnis für die Propaganda des Wahljahrs 2018 und allgemein für den Populismus von Recep Tayyip Erdogan. Er wünscht sich eine türkische Regierung, die sich weniger auf die Religion und mehr auf das Moderne konzentriert.

Seher wählt – erstmal – nicht

Seher dagegen hat sich entschieden, nicht zu wählen, jedenfalls bei diesem Wahlgang nicht. Ihr Großvater ist aus der Türkei eingewandert, sie ist türkischstämmige Deutsche und gehört zur dritten Generation.

"Für mich, insbesondere als Mensch der dritten Generation, gilt einfach: Die Türkei ist für mich ein Urlaubsland."
Seher, 29, hat sich dagegen entschieden beim ersten Wahlgang abzustimmen

Grundsätzlich fände sie es heuchlerisch, wenn sie eine so wichtige Wahl aktiv beeinflussen würde. Die Türkei sei für sie nicht mehr als ein Urlaubsland, sagt sie. Obwohl sie erklärt: "Viele wünschen sich eine demokratischere Türkei. Und das ist auch meine persönliche Meinung."

Die Meinungen im Freundeskreis sind sehr unterschiedlich

In ihrem Freundeskreis sind die Meinungen dazu sehr gemischt. Viele meinten, es brauche jetzt einen Machtwechsel in der Türkei, besonders ihre kurdischen Freundinnen. Andererseits gebe es innerhalb der türkischen Community auch eine Menge Menschen, die an Erdogan als "starkem Mann an der Spitze" festhielten und die Erfolge sehen, die er für die Türkei verbuchen konnte.

"Wenn ich oder viele andere wahlberechtigte Türkeistämmige in Deutschland vielleicht diesen demokratischen Frühling herbeiführen können, würde ich vielleicht, vielleicht wählen."
Seher kann sich vorstellen, im Fall eines zweiten Wahlgangs abzustimmen

Nur etwa die Hälfte der türkischen Community in Deutschland hat einen türkischen Pass

Neben den schon lange hier lebenden Deutsch-Türk*innen gibt es auch noch die sogenannten New-Wave-Türk*innen. Sie sind in den vergangenen zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Viele, aber nicht alle, sind aus politischen Gründen eingewandert, erklärt Özgür Özvatan. Er ist Integrationsforscher und arbeitet für das Institut für Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Özgür Özvatan, Integrationsforscher
© Stadtgören Fotografie
Integrationsforscher Özgür Özvatan
"Diejenigen, die in den letzten zehn Jahren gekommen sind, da ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die noch den türkischen Pass besitzen und sich deswegen auch an den Wahlen beteiligen können."
Özgür Özvatan, Integrationsforscher

Gerade die neu eingewanderten Menschen besitzen häufig noch einen türkischen Pass und können somit bei der Türkei-Wahl abstimmen. Insgesamt aber, so betont Özgür Özvatan, besitze nur etwa die Hälfte der Türkei-stämmigen Menschen in Deutschland einen türkischen Pass, davon ging 2018 nur etwa die Hälfte zur Wahl und davon wiederum habe nur etwa die Hälfte für Recep Tayyip Erdogan und dessen AKP gestimmt.

Prognosen sind schwierig

Zum Ausgang der Wahl könne man nur schwer Voraussagen machen. Der Integrationsforscher erinnert daran, dass es eine Tendenz gebe, Wahlentscheidungen recht unmittelbarer vor der eigentlichen Stimmabgabe zu treffen. Auch deswegen könne bis zur Wahl noch viel passieren.

"Studien zeigen, dass Menschen nicht mehr nur am Tag der Wahl, sondern tatsächlich erst auf dem Weg ins Wahllokal ihre Entscheidung treffen."
Özgür Özvatan, Integrationsforscher

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Shownotes
Türkische Community in Deutschland
Warum uns die Türkeiwahl bewegt
vom 11. Mai 2023
Moderatorin: 
Ivy Nortey
  • Erkut, 36, lebt in Berlin, hat zum ersten Mal seine Stimme bei einer Wahl in der Türkei abgegeben
  • Seher, 29, war lange unentschieden, ob sie als Deutsch-Türkin ihre Stimme bei der Wahl in der Türkei abgeben soll
  • Özgür Özvatan, Abteilungsleiter, Berliner Institut für Migrationsforschung, Humboldt-Universität zu Berlin