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Am 08. Mai 2025 ist es 80 Jahre her, dass Europa von der Nazi-Diktatur befreit wurde. Das Erinnern an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte kann die Demokratie stärken. Doch wie sieht eine zeitgemäße Erinnerungskultur aus?

"Man kann eigentlich nirgends besser lernen, wie wertvoll auch die schlechteste Demokratie ist, wenn wir anschauen, was Diktaturen in diesem Land gebracht haben", sagt Historiker Mathias Irlinger. Das Erinnern an die unvergleichlichen Verbrechen der Nationalsozialisten könne dabei helfen, demokratiezersetzende Entwicklungen zu erkennen und ihnen frühzeitig entgegenzutreten.

Wie sollte Gedenkarbeit aussehen?

Doch ist die Erinnerungskultur, die sich in Deutschland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten herausgebildet hat, noch zeitgemäß? Oder brauchen wir neue Wege in der Gedenkarbeit? Darüber diskutieren bei Wissen unplugged drei Expertinnen und Experten:

Jeder Experte, jede Expertin hat zur Diskussion eine These mitgebracht:

1. These von Susanne Siegert: "Zwischen Meme und Mahnung: Seriosität braucht nicht immer Schwere"

Im Jahr 2020 recherchiert Susanne Siegert zu einem wenig bekannten Außenlager der Nazis in ihrer Heimat in Bayern. Sie beschließt, ihre Recherche auf einem Instagram-Kanal zu teilen. Anfangs interessieren sich nur wenig Menschen für ihre Gedenkarbeit – inzwischen folgen der Journalistin und Content-Creatorin mehr als 200.000 Menschen auf Tiktok und fast 160.000 auf Instagram.

Unter @Keine.Erinneurngskultur teilt sie Videos und Posts, in denen sie über die NS-Zeit aufklärt – aufbereitet für eine junge Zielgruppe. Dabei verbindet sie popkulturelle Elemente wie Reality-TV mit Gedenkarbeit.

"Ich glaube, man muss es schaffen, an Punkte in der Lebenswelt von jungen Menschen anzuknüpfen."
Susanne Siegert aka @Keine.Erinnerungskultur

Susanne Siegert glaubt: Junge Menschen anzusprechen und dabei über die NS-Zeit aufzuklären, muss nicht immer nur mit Schwere verbunden sein. Welche Erfahrungen sie dabei auf ihren Accounts macht – und wie viele Kommentare sie auch löschen muss, darüber spricht sie sehr offen.

2. These von Mathias Irlinger: "Das Beispiel Hitler zeigt: Mit Imagekampagnen lässt sich der Abbau der Demokratie geschickt legitimieren."

Zu den Propagandawerkzeugen der Nazis gehörten auch auf den ersten Blick harmlos wirkende Dinge – zum Beispiel ein rotes Sammelalbum, in dem Bürgerinnen und Bürger Alltagsaufnahmen von Adolf Hitler einkleben konnten: der Führer, der in seinem Zuhause am Obersalzberg mit Kindern durch ein Fernrohr schaut; der Führer, wie er Skifahrerinnen die Hand gibt.

"Dieses Sammelbildalbum wurde 2,2 Millionen Mal verkauft in der Zeit von 1936 bis 1942", sagt Mathias Irlinger. In seiner Arbeit als Bildungsreferent an der Gedenkstätte Obersalzberg hat er sich viel mit der Propaganda der Nazis beschäftigt. Er ist überzeugt: Hitler wechselte in den 1930er-Jahren gezielt sein Image, um für bestimmte Milieus anschlussfähig zu werden.

"Er spielt jetzt den lieben Onkel Adolf vom Obersalzberg, der Kinder liebt, Tiere liebt, naturverbunden ist. Und das sind natürlich Charaktereigenschaften, die anschlussfähig sind für ganz viele Menschen."
Mathias Irlinger, Bildungsreferent an der Gedenkstätte Obersalzberg

Auch heute setze die Neue Rechte in Europa Medien gezielt zur Manipulation ein, sagt Mathias Irlinger. Um die Demokratie zu schützen, sei es daher wichtig, die Wirkmechanismen solcher Imagekampagnen zu erkennen und dekonstruieren zu können.

3. These von Derviş Hızarcı: "Damit Erinnerungskultur in einer Migrationsgesellschaft gelingt, müssen migrantische Perspektiven aktiv eingebunden werden."

Derviş Hızarcı ist Pädagoge und setzt sich als Vorsitzender des Kreuzberger Kiga-Vereins aktiv gegen Antisemitismus ein. Er findet: Migrantische Perspektiven werden in der deutschen Erinnerungskultur bisher kaum eingebunden.

Vor ein paar Jahren hat Derviş Hızarcı mit syrischen und irakischen Geflüchteten eine Gedenkstätte besucht. Beim Rundgang zog ein syrischer Geflüchteter Parallelen zu Assads Foltergefängnissen. Doch die Assoziation wurde von der Referentin in der Gedenkstätte recht schnell abgebügelt – mit dem Hinweis, der Holocaust sei einzigartig gewesen und deshalb sei das nicht vergleichbar.

"Wissen unplugged" am 29. April 2025 in der Hörsaal-Ruine in Berlin
© Phil Dera Photography
"Wissen unplugged" zu Erinnerungskultur am 29. April 2025 in der Hörsaal-Ruine in Berlin

Für Derviş Hızarcı ist das der falsche pädagogische Ansatz. "Wir sind manchmal zu schnell und zu forsch und sagen: 'Stopp, das darf man nicht!' Und dann fühlen sich Menschen vor den Kopf gestoßen und können sich nicht aktiv in diesen Prozess begeben, der eigentlich im Ergebnis genau das ist, was wir wollen: Dass sie erkennen, was hier stattgefunden hat, was einzigartig war, ein Zivilisationsbruch."

"Wir sind bei den anderen zu streng und schießen somit übers Ziel hinaus."
Derviş Hızarcı, Pädagoge und Vorsitzender des Kreuzberger Kiga-Vereins

Wie Gedenkarbeit in einer Migrationsgesellschaft funktionieren kann – und was auch jeder und jede einzelne tun kann, um einen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten – das hört ihr in dieser Sonderfolge "Wissen unplugged" im Hörsaal-Podcast.

"Wissen unplugged" ist eine Veranstaltungsreihe der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS, der Leibniz-Gemeinschaft und Holtzbrinck Berlin in Kooperation mit Deutschlandfunk Nova und ZEIT Campus. Die zweite Veranstaltung fand am 29. April 2025 in der Hörsaalruine in Berlin statt.

Shownotes
Wissen unplugged
Müssen wir Erinnerungskultur neu denken?
vom 06. Mai 2025
Moderation: 
Rahel Klein, Deutschlandfunk Nova
Moderation: 
Amna Franzke, ZEIT Online