Zahlenblindheit – das bedeutet nicht, dass man schlecht im Rechnen ist, sondern, dass anstatt von Zahlen nur wirre Linien erkennbar sind. Eine neue Studie fand dazu heraus, dass der Vorgang des Sehens ganz anders ablaufen könnte als bisher gedacht.

Acht Jahre lang hat ein Team von Neurowissenschaftlerinnen- und Wissenschaftlern einen Mann in den USA mit verschiedenen Untersuchungen begleitet, der nach dem Ausbruch einer seltenen Krankheit bei den Ziffern Zwei bis Neun nur einen Salat aus Strichen erkennen konnte.

Die Studie, die im Fachmagazin PNAS veröffentlicht wurde, fand heraus: Unser Gehirn sieht mehr als das, was im Bewusstsein letztendlich ankommt. Bisher ist die Forschung davon ausgegangen, dass die Verarbeitung komplexer Seheindrücke untrennbar verbunden ist mit dem Bewusstsein. Die neue Studie zeigt aber, dass diese Vorgänge unabhängig voneinander laufen. Eine Erkenntnis, die so bisher noch nicht gemacht wurde.

Wirre Striche statt Zahlen

Vor acht Jahren hatte der Proband, damals 60 Jahre alt, eine seltene Krankheit entwickelt, bei der sich Teile des Gehirns zurückbildeten. Ein Symptom dieser Krankheit: Die Ziffern Zwei bis Neun kann er seitdem nicht mehr erkennen - nicht einmal mehr ihre Form. Auch eine Kombinationen aus diesen Zahlen waren für ihn nicht erkennbar, erklärt Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Anne Tepper.

"Er kann die Ziffern von Zwei bis Neun nicht mehr erkennen, nicht mal ihre Form. Und auch die Kombinationen aus diesen Ziffern – für ihn sind sie einfach nicht da."
Anne Tepper, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin

In einem Fachmagazin haben die Forschenden abgedruckt, wie der Proband aufzeichnete, was er bei einer orangenfarbenen acht sah: Ein Knäuel aus schwarzen Strichen auf orangenfarbenen Hintergrund.

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Bei den Zahlen Null und Eins hatte der Neuro-Patient allerdings keine Schwierigkeiten. Genauso erkannte er ohne Probleme die römischen Zahlen, ausgeschriebene Zahlen sowie Sonderzeichen. Dieses selektive Erkennen fand das Forschungsteam besonders spannend.

Wahrnehmung im Unterbewusstsein

Die Forschenden stellten deshalb folgende Theorie auf: Bei Personen mit einer Zahlenblindheit werden die Ziffern zwei bis neun zwar vom Gehirn erkannt, wenn das Auge sie erblickt, jedoch nur im Unterbewusstsein. Im Bewusstsein kommen dagegen nur wirre Linien an bei dem Probanden an, erklärt Anne Tepper.

"Offenbar ist es so, dass die Ziffern Zwei bis Neun zwar vom Gehirn erkannt werden, wenn das Auge sie erblickt, aber nur im Unterbewusstsein."
Anne Tepper, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin

Im Gehirn von Menschen mit Zahlenblindheit ist also die Integration von dem, was das Gehirn aus den Sehsignalen ausrechnet und an das Bewusstsein sendet, gestört.

Gleiche Gehirnströme

Um die Verarbeitungsprozesse im Gehirn des Probanden zu verstehen, betteten die Forschenden unter anderem ein Gesicht in eine der unerkennbaren Ziffern ein. Als der Neuro-Patient nur das Gesicht zu sehen bekam, erkannte er es sofort. Eingezeichnet in eine Ziffer, kam allerdings wieder nur ein Mix aus wirren Linien bei ihm an.

Seine Hirnströme zeigten den Forschenden aber etwas anderes: Das Gehirn identifizierte das Gesicht auch in der blinden Ziffer. Das erkannten die Forschenden, da die Hirnströme die gleichen waren wie diejenigen, als der Proband das Gesicht einzeln sah. Tests mit anderen Komponenten wie beispielsweise einer Birne ergaben das gleiche Ergebnis.

Shownotes
Neue Studie zum Sehvorgang
Zahlenblindheit: Wirre Linien statt Zahlen
vom 23. Juni 2020
Moderator: 
Christian Schmitt
Gesprächspartnerin: 
Anne Tepper, Deutschlandfunk Nova