Das mit der Sonntagsruhe hat die Kirche irgendwie falsch verstanden. Ursprünglich war der arbeitsfreie Tag darauf ausgerichtet, zu ruhen. Jeder Einzelne sollte Zeit finden, um die Ruhe zu zelebrieren. Die christliche Kirche forderte jedoch etwas anderes von ihren Mitgliedern: die Teilnahme an Gottesdiensten. Der einstige Grundgedanke hätte das Potenzial, unsere Welt zu verbessern, sagt der Theologe und Philosoph Uwe Becker.
Die christliche Kirche bestimmt noch immer unsere Lebenszeit, auch das von Nichtchristen und Nichtgläubigen - zumindest wenn wir sonntags versuchen, einkaufen zu gehen. Früher mal hatte die Kirche hierzulande ein Monopol, die öffentliche Zeit einzuteilen. Dieses Monopol hat sie zwar weitestgehend verloren, aber noch immer leben wir in Überresten dieser alten Ordnung.
"Diese monopolartige kirchliche Zeittaktgeber-Funktion ist inzwischen aufgehoben, und andere Institutionen haben Zeit strukturierenden Einfluss gewonnen."
Unsere Zeit wird heute freilich überwiegend durch andere Institutionen bestimmt - und durch Imperative unserer gegenwärtigen Gesellschaft, wie Beschleunigung oder Flexibilität etwa. Von vielen werden diese Imperative längst als Zwang empfunden. Und genau da könnte die alte Idee der Sonntagsruhe weiterhelfen - allerdings in einer korrigierten Neuauflage, meint der Theologe und Philosoph Uwe Becker.
"Die Bedeutung des Sabbat ist, die Zeit zu feiern. Es geht nicht um den Sabbat an sich, sondern immer um sein Verhältnis zum Menschen."
Er befasst sich mit den Wurzeln der Sonntagspraxis - das heißt mit der Tradition des jüdischen Sabbat und dem, was die christliche Kirche daraus gemacht hat - und kommt zu dem Schluss, dass die Idee eines arbeitsfreien Tages mal viel mehr war als ein bloßes Arbeitsverbot zum Zwecke des Gottesdienstbesuches. Ursprünglich ging es vor allem darum, die Zeit als etwas Heiliges zu feiern und ihre ökonomische Verwendung zu begrenzen. Ein Ansatz, der erstaunlich zeitgemäß klingt!
"Das sind doch biblische Impulse, die einem kirchlichen Plädoyer für eine ökonomische Entschleunigung und für eine Ökonomie, die sich gebunden weiß an eine neue Definition von Lebensfülle und Zeitwohlstand statt an Güterreichtum, gute Argumente geben würde!"
Uwe Becker ist Professor für Diakoniewissenschaft, Sozialethik und Verbändeforschung an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Zu seinen Schwerpunktthemen gehört neben Arbeit und Armut oder Inklusion auch die Zeitpolitik. Sein Vortrag mit dem Titel "Hat die Kirche die Sonntagsruhe verschlafen? Anmerkungen zur brüchigen Theologie einer Zeitinstitution" hat er am 10.12.2015 im Rahmen der Akademievorlesungsreihe "Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding" der Akademie der Wissenschaften in Hamburg gehalten.
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