Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat die Türkei von Grund auf verändert. Von praktisch allen Türken wird er zutiefst verehrt, sagt die Türkei-Korrespondentin Susanne Güsten – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Mustafa Kemal Atatürk hat mit der Gründung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923 das Leben aller Untertanen im vormaligen Osmanischen Reich verändert, sagt die freischaffende Türkei-Korrespondentin Susanne Güsten. Er hat Ankara statt Istanbul zur Hauptstadt gemacht, um sich von der osmanischen Vergangenheit abzugrenzen. Seine Vision war eine Republik nach westlichem Vorbild – und dafür schreckte er auch vor tiefgreifenden Veränderungen nicht zurück.

"Er hat alles, aber auch wirklich alles verändert in diesem Land."
Susanne Güsten, Freie Türkei-Korrespondentin

Atatürk krempelte das Leben in der Türkei grundlegend um, so Susanne Güsten. Beispielsweise hat er

  • die Schrift von der Arabischen auf die Lateinische umgestellt
  • die Kleidung verändert, etwa den Fez und andere orientalische Kopfbedeckungen verboten
  • den Türken, die bisher nur einen Vornamen hatten, einen Nachnamen verpasst
  • den Ruhetag vom Freitag, dem heiligen Tag des Islam, auf den Sonntag verlegt
  • Frauen, die vorher keinen Status hatten, zu gleichberechtigten Bürgerinnen gemacht
  • das Bildungssystem komplett nach westlichem Vorbild verändert
"Da sind tatsächlich Köpfe gerollt. Es sind Leute hingerichtet worden dafür, dass sie sich geweigert haben, ihren Fez abzusetzen."
Susanne Güsten, Freie Türkei-Korrespondentin

Zwar hat Atatürk den Einfluss der Religion weitgehend zurückgedrängt, sagt Susanne Güsten. Doch von einer "Trennung" von Kirche und Staat könne man nicht sprechen. Das sei ein weitverbreitetes Missverständnis in der westlichen Welt. Vielmehr habe Atatürk die Religion dem Staat untergeordnet, "weil er Angst hatte vor der Kraft des Islam."

Religion dem Staat untergeordnet

Atatürk wollte mit diesem Schritt den Einfluss der Religion beschneiden. "Und das hat super funktioniert, solange die Kemalisten am Ruder waren", sagt die Korrespondentin. Doch nachdem die Kemalisten, die Anhänger Atatürks, die Macht verloren und 2002 die AKP an die Macht kam, habe sich dieses Prinzip gegen die Kemalisten gekehrt: "In den Moscheen wird jetzt das gepredigt, was Erdogan richtig findet."

"Die Religion ist und war ein Instrument des Staates in der Türkei."
Susanne Güsten, Freie Türkei-Korrespondentin

Der Republikgründer Atatürk ist dennoch bis heute überall präsent in der Türkei – und er wird auch von jungen Leuten dort verehrt, aus unterschiedlichen Gründen, wie Susanne Güsten erläutert: Die Kemalisten trauern ihm und seinem Erbe nach. Die Erdogan-Anhänger feiern Atatürk als Befreier der Nation, der den Unabhängigkeitskrieg 1923 gewann und das Land gegen fremde Besatzung verteidigte.

"Bis Erdogan an die Macht kam, hatten die Generäle das sagen. Und da war es auch nicht immer so lupenrein mit der Gewaltenteilung."
Susanne Güsten, Freie Türkei-Korrespondentin

Wirtschaftlich durchlebt die Türkei heute schwierige Zeiten - die Inflation lag im September bei rund 61 Prozent. Menschenrechte, Frauenrechte, Minderheitenschutz und rechtsstaatliche Prinzipien werden von der Erdogan-Regierung immer weiter ausgehöhlt.

Was man nicht vergessen dürfe, wenn man die letzten hundert Jahre betrachte, so Susanne Güsten: "So wahnsinnig demokratisch war die Türkei nie." Auch die Verwestlichung wurde schließlich von oben verordnet und "ziemlich brachial" durchgesetzt. Und bereits vor Erdogan habe es in der Türkei demokratische Missstände gegeben, sagt sie.

Shownotes
100 Jahre Türkische Republik
Atatürk wird in der Türkei bis heute verehrt
vom 29. Oktober 2023
Moderator: 
Marcel Bohn
Gesprächspartnerin: 
Susanne Güsten, Freie Türkei-Korrespondentin