Fünf Kinder, Hartz IV, Nichtwähler - das sind Annas Eltern. Anna selbst war die beste Abiturientin ihres Jahrgangs, ist heute 23 und Journalistin. Und sie geht wählen. Weil ihre Eltern sie zu einem politischen Menschen gemacht haben.
Dass mein Blick auf die Welt ein bisschen anders ist, habe ich zum ersten Mal gemerkt, als ich in der achten Klasse war. Wir hatten Politikunterricht und wir sollten eine Tabelle machen, mit zwei Spalten. In die linke Spalte sollten wir Sachen schreiben, die wir brauchen. Also Essen, eine Wohnung und so weiter. Und in die rechte Spalte Sachen, die wir haben wollen oder uns wünschen – zu Weihnachten oder zum Geburtstag oder so. Ich habe in die "Brauchen"-Spalte neben Essen und Wohnung geschrieben: "neue Schuhe". Und ich erinnere mich ziemlich genau daran, wie meine Lehrerin mir erklärt hat, dass das falsch war.
Neue Schuhe braucht man nicht, hat sie mir gesagt, sondern man will sie, weil man eben eigentlich ein paar zur Auswahl hat. Typisch Mädchen, haha. Aber ich meinte das vollkommen ernst, mit den Schuhen, weil ich wirklich welche gebraucht hätte. Ohne Spaß. Natürlich war ich nicht barfuß in der Schule, aber es war Herbst und meine Schuhe hatten Löcher. Nur, es war Ende des Monats und grad kein Geld dafür da, neue zu kaufen. Aber anstatt meiner Lehrerin das zu erklären, habe ich die Zeile durchgestrichen. Ich wollte nicht auffallen.
"Meine Eltern leben von Hartz-IV und ich habe vier Geschwister."
Meine Eltern leben von Hartz-IV und ich habe vier Geschwister. Ich bin in einer Plattenbausiedlung im Ruhrgebiet aufgewachsen, in meiner Grundschulklasse haben nur 6 von 23 Kindern zuhause deutsch gesprochen. Und um das Klischee perfekt zu machen: Meine Eltern gehen auch nicht wählen.
Warum, wieso, weshalb, dazu später mehr. Erstmal, und das weiß ich, klingt das alles voll nach einer Asi-Familie. Aber das passt nicht zu uns. Ich war die beste Abiturientin meines Jahrgangs, habe mich sozial engagiert und ein Stipendium bekommen und all solche Sachen, die gut auf dem Lebenslauf aussehen. Mein kleiner Bruder war an einem Internat für Hochbegabte. Jetzt studiert er Physik. Eigentlich sind meine Geschwister und ich kleine Streber. Wir haben Ziele, wir wollen irgendwas werden.
Wir wollen dazugehören, mitspielen, und nicht wie unsere Eltern außen vor bleiben. Und darum ist es mir auch wichtig, wählen zu gehen. Eine Stimme abzugeben, für irgendeine Partei, auch wenn ich natürlich kein Wahlprogramm von keiner Partei komplett so unterschreiben würde. Ich finde Gentechnik okay, kann mir aber trotzdem vorstellen, grün zu wählen. Ich halte nichts von Christian Lindner, aber eine liberale Partei im Bundestag, das wäre schon mal wieder gut. Also gehe ich halt hin und kreuze irgendwas an, das halbwegs okay ist. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass Leute gar nicht wählen gehen. So wie meine Eltern.
"Ich war die beste Abiturientin meines Jahrgangs, habe mich sozial engagiert und ein Stipendium bekommen und all solche Sachen, die gut auf dem Lebenslauf aussehen. Mein kleiner Bruder war an einem Internat für Hochbegabte."
Ich werde oft gefragt, wie meine Eltern denn in so eine Situation kommen konnten, also in Langzeitarbeitslosigkeit mit fünf Kindern, vielleicht fragt ihr euch das ja auch gerade. Ja, und ehrlich gesagt, finde ich die Frage blöd. Weil die Abwertung schon drinsteckt. Und weil sie mir zeigt, dass der, der die Frage stellt, etwas nicht verstanden hat: Dass man Menschen nicht in Erfolgreiche und Versager einteilen kann. Weil Lebenswege oft das Ergebnis von Zufällen und Entscheidungen sind. Und über die Entscheidungen kann niemand richten, der sie nicht selbst getroffen hat.
Deshalb antworte ich den Leuten in der Regel so: Papa hat eine Ausbildung zum Tischler gemacht und danach keinen Job gefunden. Mama war früher Punk. Sie hat sich eine Glatze rasiert, Spülmittel in Brunnen gekippt, Häuser besetzt, auf der Straße geschlafen und sich ein Tattoo stechen lassen. Sie hat Abi gemacht und Philosophie studiert. Als ich so drei, vier Jahre alt war, hat sie mir abends zum Einschlafen immer ihre Seminararbeiten vorgelesen. Dann wurde ich sechs, mein Bruder wurde geboren und ich glaube, dann war es so eine Spirale: Keine Erfahrung, keine Anerkennung, kein Selbstbewusstsein, kein Mut. So ist meine Mutter langzeitarbeitslos geworden. Ganz einfach. Ohne dumm zu sein oder asozial.
Das ist jetzt so etwa 18 Jahre her. Zwischendurch hat sie immer mal wieder Praktika gemacht oder geputzt oder beim Winterdienst geholfen. Aber nichts hat gehalten, am Ende war sie immer wieder arbeitslos. Und deshalb ist es heute so, dass sie nicht zur Wahl geht. Weil sie nicht mehr das Gefühl hat, eine Stimme zu haben in dieser Gesellschaft. Arbeit ist in Deutschland alles. Wer Arbeit hat, hat ein Sozialleben. Wer Arbeit hat, bekommt Anerkennung. Wer Arbeit hat, unterstützt das Sozialsystem. Wer Arbeit hat, gehört dazu. Wer keine Arbeit hat, der nutzt das Sozialsystem nur aus, lebt auf dessen Kosten. Kurz: Wer keine Arbeit hat, ist ein Asi.
"Wer Arbeit hat, hat ein Sozialleben. Wer Arbeit hat, bekommt Anerkennung. Wer Arbeit hat, unterstützt das Sozialsystem. Wer Arbeit hat, gehört dazu. Wer keine Arbeit hat, ist ein Asi."
Hartz-IV garantiert das Allermindeste: Eine Wohnung von 89 Quadratmetern für eine Familie mit fünf Kindern. Etwa 250 Euro pro Kind pro Monat, davon sind ungefähr 1,50 Euro für Bildung eingerechnet. Hartz-IV garantiert aber eben nicht, dass man dazugehört. Wenn du kein Geld hast, kannst du nämlich abends nicht in Kneipen gehen oder tagsüber ins Café, du kannst deinen Freunden keine Geburtstagsgeschenke machen oder Smalltalk über tolle Urlaubsziele führen. Hartz-IV haut dich aus allem raus. Es nimmt dir erst deine Würde, weil du jemanden um Geld bitten musst – den Staat, ganz genau das Jobcenter.
Dann nimmt es dir dein Selbstbewusstsein. Und das führt dann dazu, dass du gar keine Chance mehr hast, rauszukommen. Spätestens dann gibst du dich auf. So ist es bei meinen Eltern. Und deshalb gehen meine Eltern nicht wählen. Weil sie sich daran gewöhnt haben, zu schweigen.
"Aus Mamas Sicht steht bei jeder Wahl in jedem Wahlprogramm nämlich eigentlich nur: Wir interessieren uns nicht für dich."
Ne Zeitlang hab ich versucht das genaue Gegenteil zu sein: Als ich 16 war, hatte ich eine sehr idealistische Phase. Welt verbessern, Bäume pflanzen, niemals Auto fahren und vegan essen, so in die Richtung. Da habe ich meine Mutter einmal gezwungen, wählen zu gehen. Weil ich halt noch nicht durfte und sie durfte, aber nicht wollte, und das fand ich höchst unfair. Also habe ich so lange auf sie eingeredet, bis sie doch hingegangen ist und für mich die Grünen gewählt hat. Das war vor sieben Jahren. Ich rechne ihr bis heute hoch an, dass sie sich überreden lassen hat. Aber ich hab auch was verstanden – so als Tochter: Es bringt nichts, wenn ich sie zwinge zu wählen. Ich kann mittlerweile sogar einwandfrei verstehen, warum sie nicht wählt. Sie weiß nämlich nicht, was sie ankreuzen soll. Aus ihrer Sicht steht bei jeder Wahl in jedem Wahlprogramm nämlich eigentlich nur: Wir interessieren uns nicht für dich.
Ich sehe es inzwischen so: Je mehr Geld man hat, desto einfacher ist es, sich als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen. Wer mehr verdient, hat auch auf dem Wahlzettel mehr Auswahl. Man kann die FDP wählen, wenn man weniger Steuern zahlen will. Oder die CDU, wenn man will, dass alles so bleibt, wie es ist. Oder die Grünen, wenn man zwar viel Geld hat, aber ein schlechtes Gewissen dabei. Oder die AfD, wenn man denkt, die Flüchtlinge sind an allem Schuld. Meine Mutter hingegen kann sich auf dem Wahlzettel zwischen den Parteien entscheiden, die Hartz-IV eingeführt haben und denen, die es nicht wieder abschaffen wollen.
Ich kann also verstehen, warum sie nicht wählt. Ich versuche auch gar nicht mehr, sie vom Gegenteil zu überzeugen. So nach dem Motto, boah Mama, aber die Situation einfach so hinnehmen, davon wird es doch auch nicht besser. Geh doch einfach wählen. Kannst ja auch nen ungültigen Wahlzettel abgeben. Oder einfach ein paar Kompromisse machen. Weil das ist Demokratie ja letztlich: Ein Kompromiss aus vielem.
"Ich will Teil dieses Systems sein. Auch wenn ich nie das Gefühl hatte, dass das System mich will."
Für mich selbst allerdings wäre das, was meine Mutter macht, oder eben nicht macht, keine Option. Weil ich meine Stimme wichtig finde und sie nicht verschenken will. Ich meine, ich bin Journalistin, das ist ein Beruf, der nur in einer Demokratie so richtig Sinn macht. Deshalb wäre es wahrscheinlich idiotisch, an meiner Stelle nicht zur Wahl zu gehen. Ich kann und will die Kompromisse machen, die meine Mutter nicht machen kann oder will.
Und das mache ich, weil ich dazugehören will. Ich will um 18 Uhr auf Spiegel Online klicken und mich dann über das Ergebnis aufregen dürfen, wie alle anderen auch. Ich will Teil dieses Systems sein. Auch wenn ich nie das Gefühl hatte, dass das System mich will. Ich habe meine ganze Kindheit lang gelernt, wie anstrengend es ist, wenn man nicht dazugehört. Zum Beispiel, wenn ich vor Klassenfahrten als einzige einen Antrag stellen musste, damit die Kosten übernommen werden. Oder beim Bewerbungstraining in der Schule, als wir in den Lebenslauf schreiben sollten, welche Berufe unsere Eltern haben. Oder als ich das erste Mal in einem richtigen Restaurant war, mit der Familie von meinem ersten Freund. Da habe ich mich nicht getraut, ein Hauptgericht zu bestellen, weil die mir so schrecklich teuer vorkamen. Immer ging es um Geld, das andere hatten, ich aber nicht. Deshalb wollte ich immer, was meine Eltern nicht haben: Einen Job und ein Gehalt.
Mit 16 habe ich meinen ersten eigenen Brief vom Jobcenter gekriegt. Ich solle doch bitte zu einem Beratungsgespräch kommen, um zu besprechen, was für eine Ausbildung ich jetzt mache. Wenn ich nicht erscheine, würden sie meine Hartz-IV-Bezüge kürzen. Ich habe den Brief nur halb gelesen. Dann habe ich geweint und meine Eltern angeschrien: Ihr seid arbeitslos, nicht ich. Dabei konnten sie ja nichts dafür. Das ist eben Standard in dieser Behörde: Kinder von Asozialen müssen spätestens nach der zehnten Klasse in eine Ausbildung gebracht werden, damit sie selbst nicht ganz so asozial werden. Mein Vater ist dann am nächsten Tag mit meinem letzten Zeugnis zum Jobcenter gegangen und hat die drum gebeten, mich erstmal Abitur machen zu lassen. Das war dann auch kein Problem.
"Dass Mama nicht wählen geht, liegt nicht daran, dass sie Politiker doof findet oder dass sie ihre Unzufriedenheit zeigen will. Sie hat nur verlernt, sich selbst wichtig zu finden."
Ich habe immer dagegen gekämpft, dass man mich als das arme Kind sieht, das von Hartz-IV lebt. Ich bin nicht mein Hintergrund. Davon war ich immer überzeugt. Aber inzwischen habe ich verstanden, dass es mich natürlich geprägt hat, wie ich aufgewachsen bin. Und das ist gut so. Meine Eltern sind mein Bezugspunkt geblieben, für viele Entscheidungen. Auch politisch.
Dass Mama nicht wählen geht, liegt nicht daran, dass sie Politiker doof findet oder dass sie ihre Unzufriedenheit zeigen will. Sie hat nur verlernt, sich selbst wichtig zu finden. Sie hat sich daran gewöhnt, keine Rolle zu spielen. Deshalb ist sie jetzt hier auch nicht zu hören. Weil sie ganz andere Probleme hat, als sich mit mir über die Bundestagswahl zu unterhalten.
Aber mich hat sie dazu erzogen, selbst zu entscheiden. Wenn ich im Sommer bei 40 Grad Gummistiefel anziehen wollte, durfte ich das. Als ich 15 war, bin ich auf ein Festival gefahren und habe zu ihr gesagt, dass ich nicht weiß, wann ich wiederkomme. Mama hat mich angeguckt, mit den Schultern gezuckt und gesagt: "Bald bist du 18, dann kann ich dir eh nix mehr verbieten." Und sie hatte mir eben auch vorher nie irgendwas verboten.
Alles war meine Entscheidung, meine Verantwortung. Das war schön, aber es war auch anstrengend. Weil ich keinen Referenzpunkt hatte. Also Eltern, die sagen: Mach deine Hausaufgaben. Studier auf Lehramt. Sei um 12 wieder da. Schwänz nicht die Lateinklausur, um auf ein Konzert zu fahren. Solche Sätze hab ich einfach nie gehört. Wahrscheinlich, weil Mama nie besonders viel von Regeln gehalten hat. Da kam der Punk in ihr durch. Andere Kinder haben gelernt, dass man "Danke" und "Bitte" sagt und wie man Messer und Gabel vernünftig verwendet. Ich habe gelernt, dass Nazis Arschlöcher sind, weil sie Menschen hassen, die anders sind. Und als ich in der Schule das Wort "Nutte" aufgeschnappt habe, hat Mama mich wütend angeguckt und erklärt, dass das ein Beruf ist und ich mich nicht lustig machen soll.
"Es ist also Quatsch, dass Nichtwähler keine Ahnung von Politik haben. Meine Eltern haben zuhause viel mit mir diskutiert, das machen sie immer noch."
Sie selbst hat sich davon verabschiedet, dass ihre Stimme irgendwas zählt. Aber es war ihr immer wichtig, dass wir Kinder eine Haltung zu Dingen haben. Dass wir nicht immer nur das tun, was sich gehört und was die anderen machen, sondern das, was wir richtig finden. Vielleicht hat sie damit eine ihrer Überzeugungen wahr gemacht. Nämlich, dass jeder Mensch es verdient hat, für voll genommen zu werden. Egal, ob er ein Kind ist oder arbeitslos.
Es ist also Quatsch, dass Nichtwähler keine Ahnung von Politik haben. Meine Eltern haben zuhause viel mit mir diskutiert, das machen sie immer noch. Über Massentierhaltung, über Atomwaffen, über geschlechtergetrennten Sportunterricht und den Nahostkonflikt. Mama hat mir beigebracht, dass es nicht egal ist, was ich denke. Sie, die Nichtwählerin, hat aus mir einen politischen Menschen gemacht. Mir beigebracht, eine eigene Meinung zu haben und dazu zu stehen. Vor allem aber hat sie mir die Freiheit gelassen, anders zu sein als sie.
Eine Stimme zu haben und sie auch zu benutzen. Darum gehe ich wählen. Für mich, weil ich eine Stimme haben will. Weil ich mich als Teil dieser Gesellschaft fühle, auch wenn sie es mir als Kind vielleicht nicht leicht gemacht hat. Und auch irgendwie für meine Eltern. Weil sie mir ja erst beigebracht haben, wie das geht: eine Stimme haben.
Dieser Text war ursprünglich eine Reaktion auf einen anderen Text. Darin hat ein Kollege allen Nichtwählern unterstellt, dass sie dumm seien. Das hat Anna total wütend gemacht und darum musste sie die Geschichte ihrer Mutter aufschreiben. Den hat ihr Kollege dann auch gelesen und sich bei ihr dafür bedankt.
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