Lilit wollte Bergkarabach nie verlassen. Für sie war es das Paradies. Doch dann kam der Tag der Vertreibung. Ein Jahr ist das her. Heute lebt die 21-Jährige in Armeniens Hauptstadt Jerewan. Sie glaubt, dass sie ihre Heimat für immer verloren hat.
Eigentlich wollte Lilit nur für zwei Wochen weg sein. An dem Tag als sie ihr zu Hause verlassen hat, wusste sie nicht, dass sie dorthin nicht zurückkehren kann. Um Lilits zu Hause gibt es einen Jahrzehnte alten Konflikt, dessen Ursprünge sogar noch viel weiter in der Geschichte zurückliegen: Lilit kommt aus Bergkarabach.
"Ich habe meiner Mutter gewunken und bin einfach gegangen. Ich habe mich nicht von meinen Großeltern verabschiedet, ich bin nicht ein letztes Mal durch die Stadt gelaufen – weil ich dachte, dass ich in zwei Wochen zurück sein würde."
Wem gehört Bergkarabach?
Seit den 1990er-Jahren haben dort überwiegend Armenier*innen gelebt, in einer selbst ernannten unabhängigen Republik. International wurde sie allerdings nicht anerkannt. Völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan. Doch um diese Frage – Wem gehört Bergkarabach? – dreht sich der Konflikt. Sowohl Aserbaidschan als auch Armenien beanspruchen das Gebiet für sich. Der Konflikt ist mehrmals in einem Krieg eskaliert.
Rückblick September 2023: Nachdem Aserbaidschan neun Monate den armenischen Zugang zu Bergkarabach blockiert hat, startet Aserbaidschan am 19. September einen Großangriff auf Bergkarabach. Fast 120.000 Armenier*innen leben zu dem Zeitpunkt in dem Gebiet. Sie befürchten einen Völkermord und fliehen deshalb innerhalb weniger Tage nach Armenien. Darunter sind auch Lilits Eltern und Großeltern. "Als sie angekommen sind, haben wir uns einfach umarmt und angefangen zu weinen", erinnert sich Lilit.
Ein Jahr ist das jetzt her. Seitdem teilen sie sich zu sechst eine Zwei-Zimmer-Wohnung. In Bergkarabach hat Lilits Familie in einem Haus gelebt. Sie zeigt Bilder von ihrem Garten, in dem Blumen blühen und von ihrer Hängematte auf der Terrasse, von der aus sie die grünen Berge sehen konnte. Für Lilit war ihr zu Hause das Paradis. Das wollte sie nie verlassen.
"Viele denken: Krisengebiet bedeutet, dass die Menschen arm und nicht gut gebildet sind. Aber es war genau das Gegenteil: Der durchschnittliche Lebensstandard in Bergkarabach war höher als in Armenien."
In Jerewan, der Hauptstadt von Armenien, studiert die 21-Jährige. Vor allem ihren Eltern falle es aber schwer, sich an die Großstadt zu gewöhnen. Doch Lilit glaubt nicht, dass sie jemals nach Bergkarabach zurkkehren können.
Eine ungewisse Zukunft
In Bergkarabach hat die autokratische Führung von Aserbaidschan angefangen, Menschen zurück zu siedeln. Also, Aserbaidschaner*innen, die in den 1990er-Jahren von Armenier*innen dort vertrieben worden waren. Mithilfe eines Regierungsprogramms sollen sich in den kommenden zwei Jahren mehr als 100.000 Aserbaidschaner*innen in Bergkarabach niederlassen.
Doch den Konflikt um die Region gibt es weiter. Es laufen aktuell Friedensverhandlungen zwischen den beiden Ländern, aber es sieht nicht danach aus, als ob die Bergkarabach-Armenier*innen zurückkehren können. "Aserbaidschan hat im letzten Jahr die Chance, einen gerechten Frieden herzustellen, verpasst. Wir sind weiterhin in dieser Spirale von Revanchismus und von einer ungewissen Zukunft. Es kann auch durchaus sein, dass es nicht der letzte Krieg gewesen ist", sagt Marcel Röthig. Er leitet die Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung im Südkaukasus.
Im Krieg 2020 ist der Vater von Lilits bester Freundin ums Leben gekommen. "Viele Menschen aus meinem Umfeld haben Familienangehörige verloren: Ihre Brüder, ihre Ehemänner, ihre Väter", erzählt sie. Lilit hofft deshalb, dass es keinen weiteren Krieg geben wird – auch wenn das bedeutet, dass sie ihre Heimat für immer verloren hat.