Die Inzidenz ist auf dem höchsten Wert seit Beginn der Corona-Pandemie. Und auch die Intensivstationen sind wieder stark ausgelastet. In Österreich kommt nun ein Lockdown für Ungeimpfte – doch wie moralisch ist das?
Expert*innen sind sich einig, dass es in dieser vierten Welle, in der wir uns gerade befinden, zwei treibende Faktoren für das Infektionsgeschehen gibt. Zum einen ist das die Delta-Variante des Coronavirus. Denn die ist um ein Vielfaches ansteckender als bisherige Virusvarianten. Zum anderen gibt es viele ungeimpfte Menschen und diese erkranken häufiger und auch schwerer an Covid.
Das ist auch in Österreich so. Dort liegt die Inzidenz inzwischen bei beinahe 850. Deshalb hat das Land beschlossen, dass Ungeimpfte ab Montag (15.11.2021) in den Lockdown müssen und ihr Zuhause nur noch in Ausnahmefällen verlassen dürfen. Solch dringende Gründe sind etwa Einkäufe des täglichen Bedarfs, der Weg zur Arbeit oder der Besuch beim Arzt. Mit dieser Maßnahme will die Regierung auch die Impfbereitschaft erhöhen.
Für die Diskussion ist der richtige Freiheitsbegriff wichtig
Auch in Deutschland werden ähnliche Regelungen diskutiert. Bei der Frage, ob eine derartige indirekte Impfpflicht moralisch und gesellschaftlich gerechtfertigt ist, gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Philosophin Rita Molzberger hat darauf eine eindeutige Antwort. "Ja, es ist gerechtfertigt. Aber nur unter bestimmten Bedingungen", sagt sie.
Zunächst einmal müssten wir zwischen unfreiwillig, gezwungen und erzwungen unterscheiden, so die Philosophin. Die Pandemie begreift sie dabei als eine höhere Gewalt, auf die wir unfreiwillig Antworten finden müssten.
"Es muss politisch klargestellt werden, welche Art von Freiheit eingeschränkt wird: Willkürfreiheit, Selbstständigkeit oder Autonomie."
Zudem handle es sich bei einer indirekten Impflicht um eine Frage, die im Kern eine politische sei. Deshalb müsse klargestellt werden, welche Art von Freiheit überhaupt eingeschränkt werden könne. "In einem demokratischen System geht es nicht, die Autonomie einzuschränken. Die muss weitestgehend unangetastet bleiben", sagt Molzberger. "Aber für eine Einschränkung von Willkürfreiheit und Selbstständigkeit gibt es schon ganz gute Gründe. Das ist dann vielleicht im engeren Sinne nicht gerecht, aber gerechtfertigt", erklärt sie.
Impfpflicht ist unter bestimmten Voraussetzungen moralisch
Oft wird argumentiert, dass eine indirekte Impfpflicht die Spaltung innerhalb unserer Gesellschaft verstärken würde. "Wenn man ehrlich ist, gibt es diese Spaltung längst", sagt die Philosophin. "Ich glaube, wir fürchten vielmehr, dass das offen zutage tritt. Aber über Zugehörigkeiten und Spaltung zu reden und immer wieder neu auch im Dialog Lösung zu finden, das ist das demokratische Geschehen."
Eine Impfpflicht hält Molzberger dann moralisch für gerechtfertigt, wenn es "der letztmögliche Schritt des staatlichen Schutzes eines Individuums vor Dritten" ist. "Das ist gar nicht so ungewöhnlich, wenn wir an die Versicherungspflicht denken oder Tempobeschränkungen", erklärt sie.
"Wenn diese drei Dinge gegeben sind, dann heißt es aus moralischer Perspektive, dass der Einzelne die Pflicht empfindet, sich impfen zu lassen."
Für eine derartige moralische Rechtfertigung braucht es drei Bedingungen, so Molzberger. Erst wenn diese erfüllt seien, habe das Individuum die Pflicht, sich impfen zu lassen. "Erstens: Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu schaden. Zweitens: Der Schutz anderer muss mit dem eigenen Selbstschutz korrelieren", so die Philosophin. "Drittens: Das Schaden-Nutzen-Verhältnis muss besser sein als bei anderen möglichen Maßnahmen."