Der Roman "Heroin Chic" der norwegischen Schriftstellerin Maria Kjos Fonn erzählt von Elise - und von ihrer Verzweiflung. Der Titel lässt an abgemagerte Topmodels denken, die wenig essen – oder ganz viel und sich dann erbrechen. Die aussehen, als wären sie echte Junkies.
Elise kann sich an keine Zeit in ihrem Leben erinnern, in der ihr "Besonderssein" nicht Thema gewesen wäre. Ihre weißblonden Haare, wie ein Scheinwerfer oder Heiligenschein. In jedem zweiten Kommentar zu ihrer Erscheinung: Oh, deine Haare. Elise. Deine schönen Haare. Und wie du singst. So hell. Und rein. Wie ein Engel. Du wirst es weit bringen.
Ein Engel, dem keine Flügel wachsen
Dabei hat es sich Elise so sehr gewünscht. Mit Flügeln könnte sie jetzt aufsteigen und aus dem Fenster fliegen. Stattdessen steht sie starr, erschöpft und hungrig im Wohnzimmer ihres Chorleiters Philip. Privatstunde. Sie ist die einzige aus dem Chor, die Privatstunden bei ihm nimmt. Oder bekommt. Sie ist auch die einzige, die er so ansieht. So interessiert und schamlos. Elise genießt sein Interesse an ihr. Und sie will es gleichzeitig nicht. Sie will wegfliegen. Aber sie will auch immer wieder herkommen dürfen.
Nur noch schwarz
Alles ist verwirrend. Dass er jetzt aufsteht. Dass er sich dicht hinter sie stellt. Dass er seine Hand auf ihren Bauch legt, wo ihr Zwerchfell ist. Oder doch nur ein schwarzes Loch? Wen – oder was – er jetzt wohl sieht? Elise hat stark abgenommen. Sie trägt nicht mehr die hellen Blusen und Röcke, die ihr die Mutter rauslegt, sondern nur noch Schwarz. Von der Unterwäsche bis zu den schweren Stiefeln. Schwarz. Sogar unter den Augen. Manchmal mit Grau und Blau vermischt. Nur nicht strahlen. Sie will die Blicke nicht. Aber sie weiß nicht, wer – oder was – sie ohne sie wäre.
"Elise will kein Model sein. Sie sehnt sich nach nichts mehr als nach einem dunklen Ort, an den sie sich zurückziehen und von ihrem eigenen Strahlen erholen kann."
Wir erinnern uns an eine Zeit, in der Models wie Kate Moss auf Plakaten und Laufstegen für uns litten, mit spitzen Knochen und tiefen Schatten unter den halbgeöffneten Augen.
Das Bild passt: Elise hungert sich weg und lässt die Knochen spitz hervorstehen - in der Hoffnung, dass daraus Flügel erwachsen. Da ist sie dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Sie übernimmt die Kontrolle über ihren Körper, macht ihn leicht und unsichtbar.
"Elise sieht mit Anfang zwanzig nicht nur aus wie ein Junkie. Sie ist ein Junkie."
Es fängt mit Tabletten an. Die ersten beiden bekommt sie vom Chorleiter Philip. Gegen das Lampenfieber. Schon bald nimmt Elise Tabletten gegen und für alles Mögliche. Gegen die Erschöpfung. Für mehr Gleichgültigkeit. Es funktioniert. Sie nimmt weiter ab. Sie schwebt. Und singt. Wie ein Engel.
Natürlich geht das schief. Natürlich kommt sie irgendwann nicht mehr hoch zum hohen C. Und natürlich reichen die Tabletten irgendwann nicht mehr. So kommt das Heroin zu ihr.
Das Buch
"Heroin Chic" von Maria Kjos Fonn, aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt von Gabriele Haefs, erschienen bei Culturbooks, 221 Seiten, Taschenbuchausgabe (Paperback): 18 Euro, E-Book: 11, Euro; ET: 22.03.2022