Das sogenannte perfekte Gehör gilt als sehr selten. Aber: Bei Ohrwürmern können erstaunlich viele Menschen Lieder aus dem Gedächtnis exakt nachsingen, das zeigt eine neue Studie. Etwa die Hälfte der Befragten traf genau die richtige Tonhöhe und könnte damit über eine Art verstecktes "perfektes Gehör" verfügen.

Mozart soll das absolute Gehör gehabt haben, Beethoven auch – zumindest in jungen Jahren. Diese Eigenschaft taucht meist eher im Zusammenhang mit Genies auf. Jetzt zeigt jedoch eine neue Studie: Womöglich haben viel mehr Menschen – zumindest ein bisschen – ein absolutes Gehör.

Absolutes Gehör, das bedeutet, dass wir genau sagen können, welchen Ton wir gerade gehört haben. Und dass wir nicht nur die Melodie von einem Lied nachsingen können, sondern auch genau die richtige Tonhöhe treffen. Damit hat sich eine neue Studie genauer beschäftigt. 30 Probanden wurden aufgefordert – immer, wenn sie Lust hatten – einen Ohrwurm nachzusingen oder nachzusummen. Ein Lied, das ihnen gerade durch den Kopf ging und es dann auf ihrem Smartphone aufnehmen.

Mehr richtige Töne als erwartet

Dabei kam heraus, dass mehr als zwei Drittel der Proband*innen maximal einen Halbton neben dem Originalsong lagen. Fast die Hälfte hat die Tonhöhe sogar genau getroffen – als hätten sie ein absolutes Gehör. Eigentlich ging man bisher davon aus, dass das in Europa und Nordamerika nur einer von 10.000 Menschen hat.

"In Asien gibt es Regionen, in denen fast jeder Zweite ein absolutes Gehör hat."
Matthias Wurms, Deutschlandfunk Nova

In Asien hingegen haben viel mehr Menschen ein absolutes Gehör – in manchen Regionen sogar jeder Zweite. Es wird vermutet, dass es mit der Sprache zusammenhängt. Denn das chinesische Mandarin zum Beispiel ist eine sogenannte Tonsprache. Das heißt: Die Bedeutung der Wörter hängt von der Tonhöhe ab: "Ma" kann demnach – je nach Tonhöhe – "Mutter", "Hanf", "schimpfen" oder "Pferd" bedeuten.

Durch solche Feinheiten wird das absolute Gehör geschult. "Und genau deshalb gehen Forschende auch davon aus, dass man das absolute Gehör trainieren kann und auch trainieren muss", sagt Deutschlandfunk-Nova-Reporter Matthias Wurms.

"Die Autoren der Studie vermuten sogar, dass wir eine Art automatisches perfektes Gehör haben."
Matthias Wurms, Deutschlandfunk Nova

In der Vergangenheit gab es andere Studien, bei denen bis zu 15 Prozent der Probanden einen Song sehr genau nachsingen konnten. Diesmal waren es aber eben noch mal deutlich mehr. Deswegen gehen die Autoren davon aus, dass wir eine Art automatisches perfektes Gehör haben.

Die Forschenden vermuten, dass der Faktor Spontaneität einen Unterschied macht. In der neuen Studie haben die Proband*innen Lieder gesungen, die ihnen gerade in den Sinn kamen – ohne dass sie sich einen bestimmten Song vorgenommen hatten oder dass man ihnen ein Lied vorgegeben hatte und ohne dass jemand neben ihnen stand, der zuhörte.

"Die Forschenden vermuten, dass unser Gehirn musikalische Erinnerungen auf eine besondere Art abspeichert."
Matthias Wurms, Deutschlandfunk Nova

Die Gründe könnten darin liegen, dass unser Gehirn Musik-Erinnerungen anders abspeichert, so die Forschenden. Normalerweise arbeitet das Langzeitgedächtnis eher effizient und speichert nur den Kern von dem, was wir erlebt haben, ab. Keine Details.

"Bei Musik hieße das: Es wäre einfacher, sich nur die Melodie zu merken. Das würde reichen, um einen Song sozusagen wiederzuerkennen, weil der in verschiedenen Tonarten ganz ähnlich klingt", sagt Matthias Wurms. Offenbar wird aber die exakte Tonhöhe gleich mit abgespeichert. Warum das so ist, soll nun erforscht werden.

Shownotes
Hören und Ohren
Perfektes Gehör – nicht nur bei Genies
vom 22. August 2024
Moderator: 
Christian Schmitt
Gesprächspartner: 
Matthias Wurms, Deutschlandfunk-Nova-Wissensnachrichten