Es gibt Jugendliche, die so starke Traumata oder psychische Probleme haben, dass Sozialarbeiter und Pädagoginnen scheitern. Wenn ihnen nirgendwo geholfen werden kann, gibt es für sie manchmal doch noch eine letzte Chance, sich sozial einzufügen und psychisch zu stabilisieren: Jugendhilfe-Projekte im Ausland, beispielsweise in Portugal.

Etwa 19 Mal ist die 16-jährige Alice (Name geändert) in den ersten Wochen ihres Aufenthalts aus der Jugendhilfe-Einrichtung im Süden Portugals ausgerissen. Einmal hat sie eine Nacht im Freien verbracht, aber sie ist immer wieder zurückgekehrt. In der ländlichen Region Alentejo gibt es keine U-Bahnhöfe, keine Einkaufszentren und keine Freunde, bei denen sie Unterschlupf finden könnte.

"Irgendwann kommen sie zurück, weil sie merken: hier mitten im Alentejo gibt es keine Einkaufszentren, keine U-Bahnstationen - nichts, wo man sich verstecken kann."
Erasmus Bielefeld über Ausreißversuche von Jugendlichen

Gerade nicht wegzulaufen und einfach da zu bleiben, sich mit ihren Gefühlen, ihren Ängsten und ihrem Misstrauen zu konfrontieren, sei für das Mädchen wichtig, sagt Erasmus Bielefeld, der pädagogischer Koordinator für die Einrichtung.

Verhaltensauffällige Jugendliche brauchen Zeit, um Vertrauen zu fassen

Alice lebt auf einer 90 Hektar großen Farm Quinta do Cerro. Hier wohnt sie mit vier anderen Mädchen in einer Wohngemeinschaft des Vereins Progresso. Gemeinsam kümmern sie sich um sechs Pferde.

Progesso wurde 2007 von deutschen Sozialpädagoginnen und Erzieherinnen gegründet. Vielen Jugendlichen, die verwahrlost sind, Gewalt erlebt haben oder auf andere Art traumatisiert wurden, kann in deutschen Einrichtungen oft nicht ausreichend geholfen werden. Der Verein will diese Lücke füllen und betreut die Jugendlichen in Portugal intensivpädagogisch.

Reizarme Umgebung, Leben mit der Natur, Abstand zum gewohnten Alltag

Das Konzept: eine reizarme Umgebung in einer ländlichen Region, in der die Jugendlichen im Einklang mit der Natur leben und Einzelunterricht bekommen. Bei Alice habe das zu einer positiven Veränderung geführt, sagt Easmus Bielefeld. Vor allem die Pferde, eine Kunsttherapie und der fest strukturierte Tagesablauf hätten zu dem Erfolg beigetragen.

"Sie geht jetzt zur Schule, hat ihre Rolle in der Gruppe, kann sich auf Gespräche einlassen, über Gefühle reden."
Erasmus Bielfeld, pädagogischer Koordinator für die Quinta do Cerro des Vereins Progresso

145 Jugendliche hat der Verein seit seiner Gründung in Portugal betreut, viele davon über mehrere Jahre. Die Kosten dafür trägt das jeweils zuständige Jugendamt. Je nach Verdienst müssen die Eltern sich auch finanziell beteiligen.

Für Alice endet die Betreuung, sobald sie 18 Jahre alt ist. So ein abrupter Schritt in die Selbstständigkeit fällt vielen Jugendlichen sehr schwer, weshalb die deutsche Jugendhilfe in der Kritik ist. Bis es für Alice so weit ist, möchte sie aber noch ihren deutschen Schulabschluss in Portugal schaffen, damit sie später Tierärztin oder Arzthelferin werden kann.

Jugendhilfe-Projekte im Ausland haben viele Gesichter. Unsere Reporterin Anika Reker hat zwei Einrichtungen des Vereins Progresso in Portugal besucht. Neben Alice hat sie dort unter anderem auch den 12-jährigen Gabriel (Namen ebenfalls geändert) kennengelernt, der früher als sehr aggressiv galt und mehrfach von der Schule suspendiert wurde. Um die ganze Reportage zu hören und zu erfahren, was sich für ihn durch das Auslands-Projekt geändert hat, klickt oben auf den Playbutton.

Shownotes
Intensivpädagogik
Letzte Chance Portugal: Jugendhilfe-Projekte im Ausland
vom 11. Januar 2021
Moderatorin: 
Steffi Lorbach
Autorin: 
Anika Reker, Deutschlandfunk Nova