Für uns ist das Essen von Menschen ein Tabu. Nicht aber für unsere Vorfahren. Kannibalismus hatte auch einen ganz praktischen Nutzen.

Wissenschaftler vom spanischen Nationalen Forschungszentrum für Menscheitsgeschichte in Burgos haben Knochen untersucht, die in einer nordspanischen Höhle gefunden wurden. Diese Knochen werden dem Homo antecessor zugeschrieben – ein Frühmensch, der vor 900.000 Jahren gelebt hat.

Kannibalismus nicht aus Not

Die Knochen weisen menschliche Bissspuren auf. Genauer: Die Forscher haben rekonstruiert, dass die Körper gehäutet und die Knochen zerbrochen wurden. Der Frühmensch wollte so an das Knochenmark herankommen. Sogar Rippenknochen wurden angekaut und ausgelutscht.

Die Wissenschaftler haben festgestellt, dass in der Fundschicht noch viele andere Knochen lagen. Die meisten stammen von Tieren. Daraus schließen die Forscher, dass der Homo antecessor gar keine Notwendigkeit hatte, Menschen zu essen, weil er genug Beute vorhanden war.

"Es war für die Frühmenschen einfacher, einen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu erbeuten als wehrhafte oder schnelle Beutetiere wie Nashörner oder Hirsche."
Meike Rosenplänter, Deutschlandfun-Nova-Reporterin

Die Wissenschaftler haben außerdem entdeckt, dass es im Vergleich mehr Menschenknochen mit Nagespuren gibt als Tierknochen. Sie nehmen an, dass Menschen häufiger als Tiere verspeist wurden und diese auch ganz bewusst ausgewählt wurden.

Jugendliche waren leichte Beute

Um herauszufinden, warum sie das gemacht haben, haben die Forscher das Beutewahl-Modell angewandt: Der Jäger wählt die Beute, die ihm – bei geringstmöglichem Aufwand – die meiste Energie bringt. Die Schlussfolgerung ist: Für die Frühmenschen war es einfacher, einen Jugendlichen oder einen jungen Erwachsenen zu erbeuten, als schnelle wehrhafte Beutetiere wie Nashörner oder Hirsche.

Plausibel ist das Ganze, wenn man dieses Verhalten mit dem von Schimpansen vergleicht: In Konflikten töten die Menschenaffen vorwiegend Jungtiere von Artgenossen und fressen sie dann auf.

Kannibalismus aus Pragmatismus

Die Wissenschaftler nehmen aber an, dass die Opfer der gleichen Gruppe wie die der Jäger angehört haben und eines natürlichen Todes gestorben sind. Die Sterblichkeitsrate bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter den Frühmenschen scheint sehr hoch gewesen zu sein. Der Homo antecessor könnte demnach den Tod eines Gruppenangehörigen pragmatisch zur Nahrungsergänzung genutzt haben.

Shownotes
Evolutionsgeschichte
Frühmensch hat seine Artgenossen verspeist
vom 08. Mai 2019
Moderatorin: 
Jenni Gärtner
Gesprächspartnerin: 
Meike Rosenplänter, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin