Sie ist Journalistin und bekommt irgendwann keine Aufträge mehr. Er ist Schauspieler und hat kaum Engagements. Beide leben von Hartz IV, beide kennen das Gefühl arm zu sein, beide schämen sich und beide suchen nach einem Platz in dieser Gesellschaft - auch ohne Arbeit. Herr L. und Frau K. erzählen, was es für sie bedeutet vom Staat abhängig zu sein.

Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Außerdem weichen die gesprochenen Worte manchmal vom Skript ab. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.

Herr L: "Ich muss jetzt richtig überlegen wo ich ansetze, weil man könnte fast von Anfang an ansetzen, weil das so wie ein Weg dahin führt."

Frau K: "Woran lag das – hmm - das lag daran, dass ich mir das Schwerste ausgesucht habe. Was mich interessiert, sind Dokumentarfilme."

Herr L: "Und diese meine Erwerbsgeschichte hat damit eigentlich überhaupt nix zu tun sondern das ist eher. Wenn ich ganz ehrlich mit mir bin, die ganze Zeit eine Suche danach was - hmm - schon - ähm - wo ist ein Platz in dieser Gesellschaft für mich?

Frau K: "Und hab viele Sachen gemacht aber sobald du ein bisschen aus dem Rahmen springst, es ist sehr schwer da irgendwie was richtig hinzukriegen und irgendwann machst du das Falscheste, was du machen kannst, du drehst selbst die kleinen Filmchen und die bietest die dann an aber die will dann niemand!"

Herr L: "Also ich habe vor anderthalb Jahren meinen sozusagen gesicherten Beruf an einem Schauspielhaus an einem Theater als Schauspieler aufgegeben. Ich hab relativ spät mit der Ausbildung angefangen für nen Schauspieler. Ich war 24, hab dann mit 29 abgeschlossen, hab auch sofort ein Engagement gefunden. Ich hab das als etwas unglaublich eingezwängtes, in seltsamen Zusammenhängen, die ich nicht richtig verstanden habe, mit ner wahnsinnigen Unterbezahlung und ner totalen Überforderung von allen Beteiligten erlebt. also das war mein Arbeitsumfeld so."

Frau K: "Also ich hab Journalistik studiert und da ich nicht so schnell meinen Unterhalt verdienen konnte, hab ich dann im Tourismus gearbeitet und dort hab ich Jahre lang sehr viel Geld verdient, bis dann 2006 eine große Flaute kam und gar nichts und kamen nur noch ein paar Aufträge und 2008 war dann völlig nichts mehr."

Herr L.: "Ich fühlte mich in so ner Blase gefangen, die nichts mehr, die nichts mehr mit nem Leben zu tun hat, das außerhalb von dieses festgesetzten Arbeitszeiten von 10-14 und 18-22 Uhr so zulässt. Und ich merkte, dass ich selbst nur noch am Rande meiner selbst war, überhaupt nicht mehr wusste, was ich will, wie ich es will, was mir Spaß macht, warum ich das mache, für wen ich das mache. Und das in einem Kulturbetrieb gerade im Schauspiel ja die Seele des Menschen in irgendeiner Weise zu umschreiben oder irgendetwas auch über eine Gesellschaft oder über das ICH zu erzählen letztendlich."

Frau K: "Hartz IV ist wirklich ein Glück und ein Luxus. Wenn du andere Länder nimmst, wie die damit umgehen. Andererseits: Was mit dieser Arbeitslosigkeit hier in Deutschland passiert - sag bloß nicht, dass du arbeitslos bist. Du wirst gerettet, aber du wirst auch gebrandmarkt."
Frau K.
Herr L: "Und ich war einfach ganz sehr verloren in dieser Arbeitswelt, dachte aber immer noch mit so einer Idee: Ja, gut, das Versprechen auf später! Dieses süße Versprechen auf den Erfolg, den persönlichen Erfolg oder den finanziellen Erfolg. Du hast eine Ausbildung, danach gehst du ins Berufsleben, und dann arbeitest du dich von unten nach oben. Also bin ich dem gefolgt und hab mich gezwungen. Aber es funktionierte nicht."
Herr L.

Frau K: "Äh, es hat mit mir nichts zu tun als solches, sondern ich war verheiratet und ich musste mich scheiden lassen und mein Mann, der war arbeitslos. Er ist Musiker Künstler auch. Und ich musste mich dann auch mit ihm arbeitslos melden. Ich war ja kein richtiger Hartz IV war ja nur das Anhängsel meines Mannes und dementsprechend hab ich es ja gar nicht empfunden sondern ich hab ihm geholfen. Aber ab diesem Zeitpunkt war ich so wie verfangen. Und danach sobald meine Situation mit der Krise nach unten gegangen ist, war ich komplett. Also dann bin ich im Endeffekt in dieses Netz rein gerutscht."

Herr L: "In dem Moment, wenn du nichts mehr hast als Schauspieler, deine gesamte Identität löst sich auf. Es gibt das Publikum in dem Sinne nicht mehr, du bist dann nicht mehr, also wenn du nicht auftrittst dann kannst du sagen: Ich bin FREIER SCHAUSPIELER. Es bricht so alles weg. Womit beschäftigst du dich? Machst du Stimmübungen, oder? Es wird in der Ausbildung nie gelehrt, was tut man mit der Zeit, wo man nichts tut? Wie steht man da wie rechtfertigt man sich?"

Frau K: "Ich habe meine Mutter besucht. Ich hatte Zahnschwierigkeiten, das war in so einem kleinen Dorf. Meine Mutter war völlig zerstört und sagte zu mir: 'Ich hoffe es steht nicht auf der Krankenkassenkarte, dass du arbeitslos bist? Sonst wird das jeder im Dorf erfahren.'"
Frau K.

Frau K: "Ich sag’s nicht mehr"

Herr L: "Ja, was machst du denn, was machst du?"

Frau K: "Ich hab’s früher gesagt."

Herr L: "Ich geh dem immer extrem gut aus dem Weg"

Frau K: "Auf ner Party, ein, zwei Mal..."

Herr L : "Weil mich das ehrlich gesagt, das Reden über solche Sachen, auch unglaublich erschöpft."

Frau K: "Und die Leute nehmen mich dann irgendwann mal nicht mehr richtig ernst"

HerrL: "Ja weil ich..."

Frau K: "Ich bin dann nichts mehr."

Herr L: "...in dem Sinne gesellschaftlich jetzt in dem Moment nichts vorzuweisen habe"

Frau K: "Ich bin dann automatisch, ach die schaffts nicht..."

Herr L: "Ich gehöre noch zu einer Klasse eines Bürgertums. Auch wenn man das jetzt nicht aussprechen würde - aber vom Geld her bin ich Penner."
Herr L.

Frau K: "Das ist wiederum diese Angst, jeder hat Angst nach unten zu gehen und ich bin die Verkörperung dieses Niedergangs."

Herr L: "Im vollen Safte meines Lebens - so mit Ende 30 - man ist sozusagen im besten Alter - ist bei mir so ein tiefer Einschnitt, dass nichts mehr funktioniert."

Frau K: "Ja, es ist keine Ausnahme. Es ist kein Ding aber es stigmatisiert dich einfach."

Frau K: "Wenn du vor dem Sachbearbeiter sitzt, das ist grauenvoll einfach grauenvoll, du bist ein Nichts. Erst erstmal wusste ich gar nicht, was das ist ein Ein-Euro-Job, was das genau bedeutet, und für mich war das auf einmal als ob ich noch in der Hierarchie noch runterrücke. Also wirklich bei den Leuten die hoffnungsloser als hoffnungslos sind."

Herr L: "Als dann mein Arbeitslosengeld 1 auslief, dann hab ich angefangen Musik zu machen wieder, dann ging das so ich konnte mal da Jobs mal da n Job. Anstreicherjobs, mal Musik auflegen, da mal ein bisschen was von nem Konzert, sehr wenig aber hab mich so durchgeschlängelt."

Frau K: "Das erste, was die Sachbearbeiterin zu mir gesagt hat: 'Sie sind eine Frau, das ist sehr schwer. Dann: Sie sind 45 Jahre alt. Sie haben überhaupt keine Chance.'"
Frau K.

Frau K: "Aber sie haben jetzt das Glück, wir beide wir werden miteinander arbeiten und früher hatten sie einen Sachbearbeiter, mit dem sie alle halbe Jahre gesprochen haben, jetzt sprechen wir einen Monat gemeinsam zusammen, wir werden das Problem lösen - ich bin gespannt."

Herr L: "Schallplatten hab ich verkauft, unter anderem mal in Russland eine Schallplatte gekauft 1995 von Pink Floyd und hab die auf Ebay versucht zu verkaufen und krieg daraufhin von der Gruppe Pink Floyd ne Klage an den Hals. Weil diese Schallplatte nicht offiziell autorisiert war, was aber in so nem Dunkel in so ner Grauzone. und dann kam ne Klage. Es waren nur 600 und ein paar zerquetschte Euros, da läpperten sich dann noch Gerichtskosten und so weiter dazu. Das hat mich total aus der Bahn geworfen plus ne Nachzahlung von irgendwas noch. Das hat mir das Genick gebrochen."

Frau K: "Ich hab sie noch mal gefragt und da hat sie gesagt: 'Ich bin auch ne Frau, ich weiß, was sie fühlen und ich wollte ihr sagen: Aber sie haben ne Arbeit, deswegen können sie gar nicht wissen was ich fühle. Sie wissen gar nicht, was es heißt, ständig hier vor Ihnen eine komische Komödie zu spielen, eine Komödie der Nichtarbeit ja. Und dieses ständig da rumbetteln also das nagt an einem."

Herr L: "Mein gesamtes, alles was ich mein Leben lang an Geld ausgegeben habe, was ich nicht hatte sozusagen, das hat sich mal in einem Jahr so zusammengewurstelt und ist mir dann aber so richtig so punktgenau auf den Kopf gefallen. Und dann dachte ich so: Schluss. Jetzt muss ich nen Cut machen. In dem Moment dachte ich auch kurz, stopp mal: Wo bist du denn hier eigentlich, was ist denn das hier eigentlich alles? Wie sieht es denn hier aus, was ist es denn hinter der Angst?"

Frau K: "Und ich hatte dann ne längere Zeit zur Verfügung, nachdem ich Miete, Strom, Gas, Telefon bezahlt hatte, nur noch 100 Euro im Monat zur Verfügung gehabt. Mit 100 Euro im Monat, das heißt, du hast 25 Euro in der Woche um zu leben, das ist schon wenig sehr wenig. Du kannst auch kein Ticket kaufen, du gehst nicht ins Kino, du gehst nicht aus, du gehst nirgendwohin, du feierst keinen Geburtstag mehr. Weil das geht nicht. Um auszugehen brauchst du Geld und ich möchte mich nicht unbedingt einladen lassen."

Herr L: "Irgendwas an diesem Tag ist da bei mir passiert. Wo ich plötzlich gemerkt hab: Ah, es gibt ne Möglichkeit alles anders zu denken, tatsächlich. Und darum geht's! Und darum geht's ja grundsätzlich in so vielen Sachen: Wie denk ich die Sachen? Wie benutz ich die Sachen, wie benutze ich sie für mich?!"

Frau K: "Wenn du arbeitslos bist, kannst du auch nicht mehr konsumieren. Du wirst nicht mehr wahrgenommen, wenn du konsumieren kannst, dann bist du ein Mensch, der irgendwie zu dieser Gesellschaft gehört, das ist sehr gut, du funktionierst. Und das ist das, was eigentlich eher richtig den Leuten dann fehlt, weil du kannst nicht mehr konsumieren und du bremst auf einmal sogar das ganze Konsumsystem. Du bist nicht mehr da."

Herr L: "Also ich geh nicht mehr hin, weil ich in der Gesellschaft gestrandet bin, weil ich sozusagen arbeitslos geworden bin und aus eigener Kraft nicht mehr vorankomme, sondern ich gehe jetzt hin um das Geld zu bekommen, das ich letztendlich, das klingt so ein bisschen pathetisch, was wirklich für die Gesellschaft machen kann. Indem sie mir die Möglichkeit gibt erst mal durchzuatmen, zu mir zu kommen. Und ich mich selbst aber auch schon als sehr sozialen Mensch empfinde, der Menschen in meiner Umgebung was zurückgibt, was jetzt aber nicht mehr auf diesem Arbeitskraftding so basiert."

Frau K: "Aber was ist die Realität? Ist die Realität nur Geldverdienen? Ist sie nun mal nicht!"

Herr L: "Ich bin das erste Mal in diese Behörde gegangen nicht mit gesenktem Kopf, nicht als Verlierer, nicht als ähm nicht beschämt."

Frau K: "Das heißt, ich hab mir schon so ne kleine Insel, um mich selbst zu schützen, aufgebaut und die ist gar nicht so schlecht meine Insel."

Herr L: "Wie bin ich ein volles Mitglied einer Gesellschaft, dieses volle Mitglied einer Gesellschaft, hab ich so den Eindruck, ist jemand, der genügend Geld verdient. PUNKT. Und das ist ne Sache, die für mich nie gestimmt hat und die für mich nie stimmen wird."

Frau K: "Was heißt das, arbeitslos? Das heißt, ich arbeite nicht? Nein, ich bin geldlos, ich bin arm, das bin ich, aber nicht arbeitslos. Ich arbeite jeden Tag."

Herr L: Weil ich weiß, also Geld verdienen ist keine Herzensbildung, keine Seelenbildung, ist kein Leben ist Nichts."

Frau K: "Ich weiß nur nicht; kann man wirklich einen Menschen nach vorne bringen, wenn man ihn so auf dünn und dünn hält? Das glaub ich nicht."

Wir erzählen Eure Geschichten

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Shownotes
Stigma Hartz IV
Zwei Menschen und ihre Scham
vom 19. Dezember 2014
Gesprächspartner: 
Frau L. und Herr K.
Autorin: 
Dörte Fiedler