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Was wäre wenn...

Geschichte neu erfinden als wissenschaftliche Methode

Geschichte, das sind Fakten. Spekulieren? Verboten! Aber einige Historiker tun das Verpönte trotzdem. Kontrafaktische Geschichte heißt das. Durch das Konstruieren alternativer aber wahrscheinlicher Szenarien erhoffen sie sich Erkenntnisgewinn. In seinem Vortrag erklärt der Historiker Tobias Winnerling die Methode, indem er den Mexiko-Eroberer Hernán Cortés drei mal auf unterschiedliche Weise sterben lässt.

Geschichte erscheint rückblickend oft konsequent, unausweichlich, logisch. Aber ist das wirklich so? Kontrafaktische Geschichte will das prüfen, indem sie anhand gesicherter Fakten kontrolliert über mögliche alternative Abläufe von Geschehnissen spekuliert.

Alternative Geschichte prüft die historische Relevanz von Personen

Daraus sollen dann bestimmte Erkenntnisse gewonnen werden – zum Beispiel, wie groß die Bedeutung einer bestimmten Person für bestimmte Ereignisse war. "Es geht um die Überprüfung der Relevanz", erklärt Tobias Winnerling, Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich Heine Uni in Düsseldorf.

Diese Methode ist wohlgemerkt umstritten bis verpönt. Von den meisten Historikern wird sie als nicht wissenschaftlich kritisiert. In Deutschland zumindest. Im angelsächsischen Raum hingegen ist das Erfinden alternativer Geschichte im Dienste der Wissenschaft viel salonfähiger.

"Ob tot oder lebendig – Cortés lässt sich aus der Geschichte der Conquista nicht so einfach wegdiskutieren."
Tobias Winnerling, Historiker

Wir lassen uns in dieser Hörsaal-Folge auf ein kontrafaktisches Gedankenspiel ein: Tobias Winnerling erklärt uns an einem Beispiel, warum er die Methode für sinnvoll hält: Vor 500 Jahren, zwischen 1519 und 1521, unterwarf Hernán Cortés die Azteken und eroberte so das heutige Mexiko.

Drei hypothetische Todesszenarien

In seinem Vortrag, den er exklusiv für den Hörsaal gehalten hat, bringt Tobias Winnerling ihn kurzerhand drei Mal auf verschiedene Weise um – im Dienste der Erkenntnis, versteht sich. Die leitende Frage: Wie relevant war Hernán Cortés für die Ereignisse?

"Wir machen eigentlich alle Kontrafaktische Geschichte, wenn wir etwas interpretieren. Nur viele von denjenigen, die das kritisieren, was wir machen als kontrafaktische Historiker, geben das nicht zu."
Tobias Winnerling, Historiker

Eigentlich macht er damit auch gar nichts anderes als seine Kritiker, argumentiert Tobias Winnerling: Denn jede Interpretation von Geschichte sei schließlich Kontrafaktische Geschichte. Weil: Mit der Annahme, dass bestimmte Ereignisse wichtig für den Verlauf der Geschichte waren, nähmen Historiker ja implizit auch an, dass die Dinge anders gekommen wären, wären diese Ereignisse nicht passiert.

Mutmaßen, um zu verstehen

Interpretieren heiße also immer auch, alternative Szenarien mitzudenken: "Wenn wir in andere Zeiten schauen, die nicht unsere Gegenwart sind, sind wir eben immer darauf angewiesen, dass wir bis zu einem bestimmten Grad mutmaßen", so Tobias Winnerling. Nur würde das eben niemand zugegeben.

"Kontrafaktische Geschichte ist allein schon deshalb wichtig, weil sie uns von dieser Vorstellung befreit, dass die Geschichte irgendwie so etwas Unpersönliches ist, das einfach so über uns weg geht."
Tobias Winnerling, Historiker

Und es gibt noch eine weitere Qualität der Alternativen Geschichte, ergänzt Tobias Winnerling im Interview nach seinem Vortrag: Wenn wir die Relevanz einzelner Personen für Ereignisse herausarbeiten, lernen wir dabei auch, dass jeder und jede einzelne – wir selbst eben auch – relevant sind: Wir können unsere Gegenwart und damit die Geschichte beeinflussen.

Der Vortragende: Tobias Winnerling ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Geschichte der europäischen Expansion in der Frühen Neuzeit und die Frühe Neuzeit in Games. Sein Vortrag "Die drei Tode des kontrafaktischen Cortés. Die Eroberung Mexikos rückgängig machen oder verstehen?" hat er exklusiv für den Deutschlandfunk Nova Hörsaal gehalten, er basiert auf dem Artikel "The Three Deaths of Counterfactual Cortés. Undoing or Understanding the Conquest of Mexico."

Shownotes
Was wäre wenn...
Geschichte neu erfinden als wissenschaftliche Methode
vom 11. Januar 2020
Moderatorin: 
Katrin Ohlendorf
Vortragender: 
Tobias Winnerling, Historiker, Heinrich Heine Universität Düsseldorf