Laut Militäranalysten könnte Putin die in der Ukraine besetzten Gebiete – unter anderem die Region Cherson im Süden des Landes nahe der Krim – direkt zu Teilen des russischen Staatsgebietes machen. Das schreibt das Institute for the Study of War (ISW) in seinem neusten Bericht. Doch wie sicher sind diese Hinweise und was könnte das für den weiteren Verlauf des Krieges bedeuten?
Seit 77 Tagen ist Krieg in der Ukraine. Anstatt sie zu stellvertretenden "Volksrepubliken" (wie Donezk und Luhansk im Donbas) zu machen, könnte Putin planen, die weiteren besetzten Gebiete direkt zu annektieren. Das ist das Ergebnis einer Analyse des Institute for the Study of War (ISW), eines US-amerikanischen Think Tanks, der zu Verteidigung und Außenpolitik forscht.
"Noch nicht klar, was Putin will"
Seiner Meinung nach ist es nach wie vor "noch nicht ganz klar", was der Kreml mit der Region Cherson vorhat, sagt der ehemalige DLF-Russlandkorrespondent Thielko Grieß. Es habe zwar viele Berichte darüber gegeben, dass dort – unter militärischer Kontrolle – ein (Schein-)Referendum abgehalten werden soll, ähnlich wie vor ungefähr acht Jahren auf der Krim, mit feststehendem Ausgang also. Dieses Referendum hat aber bisher noch nicht stattgefunden.
"Mein Eindruck ist, der Kreml hat das noch nicht ganz entschieden. Was am Ende passiert, hängt natürlich auch vom Verlauf des Krieges ab. In Cherson gibt es offenkundig nicht so viele Kollaborateure wie in Donezk und Luhansk."
Was am Ende in der Region Cherson passiert, hänge natürlich vom weiteren Verlauf des Krieges ab. Offenkundig würden die Besatzer auf Schwierigkeiten stoßen. Um die Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, brauchten sie viele Kollaborateure – Menschen also, die sich gegen Geld, auf Druck hin oder sonst irgendwie auf die russische Seite schlagen. Und davon gebe es offenbar nicht genügend – anders als zum Beispiel in Donezk und Luhansk. Dort sei es Russland über die Jahre gelungen, etablierte Strukturen – und "im Prinzip Folterregime" – aufzubauen.
Direkte Eingliederung möglich
Dass die Einschätzung der Militäranalysten zutreffend sein könnte, sehe man daran, dass in den besetzten Territorien zum Beispiel Eliten ausgetauscht werden. Etwa die Bürgermeister oder die Mitglieder des Stadtrats – Politiker also, die in der Ukraine durch die ukrainische Bevölkerung nach ukrainischem Recht gewählt worden sind. Sie werden ersetzt durch Personal, das Moskau gegenüber loyal ist.
"Bürgermeister und Politiker der Stadträte werden in den besetzten Territorien ersetzt durch Leute, die der russischen Seite gegenüber loyal sind."
In den besetzten Gebieten werde außerdem die Öffentlichkeit kontrolliert, so Thielko Grieß. Zum einen über die Medien: Das ukrainische Fernsehen ist längst abgeschaltet, stattdessen wird russisches Programm ausgestrahlt. Auch das Internet wird verstärkt über russische Internetknoten geleitet – was Zensur ermöglicht.
Kontrolle, Zensur, Zwang und Druck
Außerdem arbeite die russische Seite mit Zwang und Druck. Es gebe viele Informationen über Menschen, die verschleppt werden. Zum Beispiel über Aktivist*innen, die festgenommen – und dann nicht mehr gesehen werden. Wer sich dagegen gefügig zeigt, der bekommt mehr Lebensmittel oder medizinische Behandlungen.
"Wer sich gefügig zeigt, bekommt mehr Lebensmittel oder medizinische Behandlungen."
Neben den Medien werden zudem weitere russische Elemente eingeführt, zum Beispiel der Rubel als Zahlungsmittel. Außerdem werden Beschäftigte in bestimmten Sektoren aus russischen Regionen oder russisch kontrollierten Regionen herangeschafft, die dann zum Beispiel in Banken oder im Bildungssektor arbeiten, berichtet Thielko Grieß.