In "Gespenster" von Dolly Alderton hat Protagonistin Nina viele Fragen, die sich im Laufe der Jahre ihres Erwachsenwerdens ansammeln. Viele davon kann sie sich nicht beantworten, weil das nicht in ihrer Macht steht.

Nina und Joe können zusammen Essen gehen und reden – einfach so als Freunde – sie haben ihre gescheiterte Liebesbeziehung in eine Freundschaft gerettet. Sie mögen und schätzen sich, weil sie sich so gut kennen und sich aufeinander verlassen können.

"Wie kann ein gemeinsamer Abend so unerwartet anders verlaufen, obwohl gefühlt alles genau so ist wie immer?"
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Rezensentin, über "Gespenster" von Dolly Alderton

Natürlich fragt sich Nina auch heute manchmal noch, warum ihre Leidenschaft damals abhanden gekommen ist, warum Joe und sie von einem auf den anderen Tag plötzlich keinen Sex mehr hatten, warum sie auch darüber hinaus gemeinsam nichts Neues mehr entdecken wollten.

Jetzt sitzt Joe vor ihr und sie freut sich, ihn zu sehen. Er trägt wie immer die Holzfällerjacke, die sie so verabscheut, und seinen Achseln entweicht ein Geruch, der Nina an "tote Oma" erinnert. Seine Figur ist klein und kompakt. Sein Grinsen ist weich und pausbäckig.

Eine vergangene Liebesbeziehung

Sie essen Pho und erzählen sich von ihren Jobs. Er von seiner Arbeit als Sport-PR-Agent, sie von dem Kochbuch, für das sie gerade recherchiert. Sie reden sich gut zu. Alles ist wie immer. Aber dann lässt Nina ganz beiläufig fallen, dass sie jemanden kennengelernt hat: Max.

Joe versucht, genauso beiläufig Details zu erfahren. Wie er denn sei, dieser Max? Sehr groß, antwortet Nina. Und dass sie ihn über eine Dating-App kennengelernt habe. Max findet, dass beides irgendwie gar nicht nach ihrem Geschmack klingt.

"Joe sagt, dass er Lucy einen Antrag machen will, und sogar einen Ring für sie entworfen hat, zusammen mit einem Goldschmied. Nina kann, oder will, es nicht glauben."
Lydia Herms über "Gespenster" von Dolly Alderton

Nina kontert, dass sie so etwas von Lucy, Joes aktueller Freundin, auch mal gedacht hat. Dass sie eigentlich gar nicht nach seinem "Geschmack" sei.

Von da ab verändert sich das Gespräch. Es ist nicht mehr wie immer. Es ist jetzt aufwühlend und kompliziert. Es reißt Wunden auf. Joe und sie selbst wollten nie heiraten. Natürlich wirft das Fragen auf. Fragen, die sich Nina, mit etwas Abstand vielleicht selbst beantworten könnte, später und in aller Ruhe. Fragen wie: Warum mit ihr – und mit mir nicht?

Fragen und Antworten, die nur andere geben können

In dem Roman "Gespenster" erzählt Dolly Alderton von Nina und ihren Fragen. Es sind viele Fragen, die sich im Laufe der Jahre ihres Erwachsenwerdens ansammeln. Viele von ihnen kann sie sich nicht selbst beantworten, weil das nicht in ihrer Macht steht, oder weil sie nicht alles wissen und auch nicht beeinflussen kann. Weil sie keine Verantwortung für das trägt, was andere fühlen, wollen oder verbocken.

Das Buch

"Gespenster" (Originaltitel: "Ghosts", 2020) von Dolly Alderton, aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné, Atlantik, 380 Seiten, Hardcover: 22 Euro, Taschenbuch: 12,90 Euro, E-Book: 3,99 Euro; ein Hörbuch gibt es auch, gelesen von Franziska Grün. Erscheinungstag: 02.02.2021

Shownotes
Das perfekte Buch für den Moment
... wenn du nicht glauben willst, was du denkst
vom 16. Oktober 2022
Autorin: 
Lydia Herms