Gewaltfreies Siedlungsleben, gewaltsam zusammengehalten: Amira Ben Saoud beschreibt in "Das Schweben" eine menschenarme und vor allem geschichtsvergessene Zukunft. Doch von der Vergangenheit ist noch eine Menge übrig.
Juri geht immer einen Schritt voraus. Sie folgt ihm. Leise summt er eine Melodie vor sich hin. Seine Bewegungen sind leicht, als hätte er keinerlei Mühe. Und dann scheint er am Ziel zu sein.
Er hebt den Blick auf einen Baum, holt ein Buch heraus und schlägt es auf. Juri setzt zu einer Erklärung an. Er erklärt, dass dieser Baum hier nicht stehen sollte. Dass er viel mehr Wärme bräuchte. Dass er aber trotzdem wächst, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Während Juri den Baum anstarrt, starrt sie auf das Buch in seiner Hand. Woher hat er das? Über Umwege von draußen hereingeschmuggelt? So oder so dürfte es dieses Buch nicht geben.
Da ist noch was, das spürt sie. "Sag schon" fordert sie ihn auf und lacht. Und dann, er hat es kaum ausgesprochen, lacht sie zwar immer noch, aber nur, damit er nicht merkt, wie aufgewühlt sie plötzlich ist. Weil es sie an Emma erinnert. "Irgendwas ist mit dieser Siedlung nicht in Ordnung", sagt er.
Emma, die Formenwandlerin
Der Baum ist falsch, das Buch ist verboten und dieses Gefühl ist verräterisch. Denn die Frau, die dieses Gefühl fühlt, gibt es eigentlich gar nicht. Heute ist sie eine Emma, davor war sie eine Ona und davor wieder eine andere. Von dieser "falschen Emma" erzählt das Romandebüt "Schweben" von Amira Ben Saoud.
Ihr Buch spielt in einer unbestimmten Zeit in der Zukunft. Die Menschheit ist enorm geschrumpft und verteilt sich auf wenige Siedlungen, die untereinander Dinge tauschen. Die Siedlung, in der Emma und Juri leben, tauscht Holz gegen Gemüse. Darüber hinaus ist es verboten, die Siedlung zu verlassen. Wer die Siedlung betreten will, wird erschossen. Die Grenze wird von Kindern bewacht.
"Da ist keine Mauer, nur ein weißer Streifen im Nirgendwo. Es gibt kein Draußen und kein Davor."
Kein Streben nach mehr. Das ist eine der wenigen Regeln in der Siedlung. Jede und jeder bekommt eine Zone zugewiesen. Man kennt und beobachtet sich innerhalb dieser Zone. Alles soll bleiben, wie es ist. Vor allem friedlich. Gewalt ist verboten, unter Strafe. Auch verboten ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Juris Buch verstößt gegen diese Regel. Es erzählt von Bäumen, die woanders wachsen, und beweist, dass es einmal viel wärmer gewesen sein muss, auch hier, wo die Siedlung ist. Natürlich wird gegen alle Regeln verstoßen. Nicht nur von Juri. Es gibt Gewalt. Es gibt Menschen, die wissen wollen, was vor ihnen war. Und es gibt Menschen, die rauswollen.
Rollentausch in der Dystopie
Emma wollte raus. Was bedeutet, dass sie tot sein muss. Zumindest wird immer behauptet, dass niemand das Draußen überlebt. Eigentlich ein No-Go für die falsche Emma. Sie imitiert nur Lebende. Das ist ihr Job: sich in Frauen zu verwandeln. In Töchter, die ausgezogen sind. In Freundinnen, die sich getrennt haben. Manchmal auch in eine Schwester, die den Kontakt abgebrochen hat. Sie kopiert sie bis ins kleinste Detail
Das Honorar, das ihr Gil, der Ehemann der echten Emma zahlt, ist gut. Darum macht sie mit – und bereut es. Denn mit dieser Rolle stimmt was nicht. Als richtige Emma erinnert sich die falsche an die Frau, die sie selbst war. Die war sie zuletzt mit siebzehn. Jetzt ist sie einunddreißig.
"Vielleicht ist es an der Zeit, wieder die zu sein, die Emma wirklich ist. Nur wie?"
Das Buch
"Schweben" von Amira Ben Saoud, Zsolnay Verlag, Carl Hanser Verlag GmbH, 188 Seiten, Hardcover: 23 Euro, eBook: 16,99 Euro.
Die Autorin
Amira Ben Saoud, geboren 1989 in Waidhofen an der Thaya (Österreich), studierte Klassische Philologie, Kunstgeschichte und Komparatistik in Wien. Sie war Chefredakteurin des Magazins The Gap und Kulturredakteurin beim Standard. "Schweben" ist ihr erster Roman.