Auf Social Media kursieren Tests, mit denen wir herausfinden sollen, mit welcher Hirnhälfte wir vor allem denken: Links steht für analytisch und rechts für kreativ. So einfach ist es aber nicht.

Auf mehreren Social-Media-Plattformen sind Videos unterwegs, mit denen wir herausfinden sollen, ob wir eher rechtshirnig oder eher linkshirnig denken. Dabei spricht ersteres für kreativ denkende Persönlichkeiten und letzteres für analytisch Denkende.

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Sehen wir beispielsweise das Pferd in dem Video vorwärts laufen, soll das für eine linken Hirntypen sprechen, läuft es rückwärts für einen rechten.

Neurowissenschaftler Henning Beck hat sich auch ebenfalls einem solchen Test unterzogen. Angeblich ist er zu 81 Prozent rechtshirnig. Das ist ein lustiger Gag, doch diese Tests sagen nichts über angebliche Hirntypen aus, sagt er. Was wir an solchen Videos sehen können, ist vielmehr wie visuelle Informationen im Gehirn verarbeitet werden. Wir sehen, weil das Gehirn diese Informationen interpretiert und das kann bei Personen unterschiedlich sein.

Die Hirnhälften arbeiten zusammen

Die Annahme, dass die linke Gehirnhälfte nur für analytische Aufgaben und die rechte nur für kreative Aufgaben zuständig ist, ist von der Wissenschaft längst überholt. Sie stammt noch aus einer Zeit, in der Epilepsie-Patient*innen der Balken durchtrennt wurde, der die beiden Hirnhälften verbindet.

Bei diesen Patient*innen wurden verschiedene Tests durchgeführt. So wurden ihnen beispielsweise Objekte nur auf der linken Gesichtsfeld gezeigt – diese konnten sie nicht benennen. Aus diesen Experimenten wurde der Kurzschluss gezogen, dass die linke Hirnhälfte für sprachliche, analytische Aufgaben zuständig ist und die rechte für kreative.

"So einfach lassen sich die Funktionen nicht zuordnen; schließlich sind sie die beiden Hirnhälften beim Menschen verbunden, also im ständigen Austausch."
Henning Beck, Neurowissenschaftler

So einfach ist es allerdings nicht. Das Gehirn arbeitet nicht isoliert, sondern großflächig. Warum wir aber dennoch zwei Gehirnhälften haben, die bei unterschiedlichen Aufgaben mehr oder weniger aktiv sind, vergleicht Henning Beck mit einer Stadt: Gäbe es nur einen riesigen Stadtkern und keine Viertel, dann kann es unter Umständen sehr lange dauern, von einem Standort zum nächsten zu kommen. In den einzelnen Vierteln sind die Wege zum nächsten Bäcker, Supermarkt oder Arbeitsplatz dagegen sehr kurz.

Das ist im Gehirn ähnlich: Es gibt zwei Hirnhälften, in denen unterschiedliche Prozesse vorwiegend stattfinden, um die Prozesse schnell ablaufen lassen zu können.

"Wenn jemand "Entschuldigung!" sagt, erkennen wir das Wort mit der linken Gehirnhälfte. Ob die Betonung aber eher nach Reue klingt oder dazu dient, sich zu beschweren, das erkennen wir mit der rechten Gehirnhälfte."
Henning Beck, Neurowissenschaftler

Aufgaben sind komplex, das heißt in den meisten Fällen sind unterschiedliche Gehirnareale aus beiden Hirnhälften aktiv. Sprache eignet sich besonders gut als Beispiel: Wir erkennen Wörter zwar mit der linken Gehirnhälfte, ihre Betonung interpretieren wir aber mit der rechten Gehirnhälfte. Erst im Zusammenspiel der Hirnhälften ergibt sich der vollständige Sinn.

Kreative und analytische Prozesse sind komplex

Gerade für kreative oder analytische Aufgaben benötigen wir den Austausch. Hier kommt es nicht so sehr darauf an, dass eine Hirnhälfte besonders aktiv ist, sondern dass möglichst viele Areale beteiligt sind – das gilt sowohl für kreative als auch für analytische Prozesse.

Unsere Persönlichkeit lässt sich nicht einfach in einer unserer Hirnhälften lokalisieren. Ob wir eher kreativ oder eher analytisch denken, können wir über solche Kurztests jedenfalls nicht rausfinden. Aber wir können unsere Hirnaktivität ganzheitlich fördern: Durch Musizieren, Sport machen und allen Aufgaben, die uns zum denken und lernen anregen.

Shownotes
Neurowissenschaft
Hirntypen sind ein Mythos
vom 29. April 2023
Moderator: 
Thilo Jahn
Gesprächspartner: 
Henning Beck, Neurowissenschaftler