Knallrotes Gesicht und am liebsten weglaufen wollen: Mama und Papa, warum bringt ihr so was? Das denkt sich Vivi oft. Sie sagt, dass ihr Vater total peinlich sein kann. Neurowissenschaftlerin Annalina Mayer erklärt, was bei Fremdscham im Gehirn passiert.
An sich hat Vivi* ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Das Einzige, was Vivi nervt, ist die Tatsache, dass die beiden oft kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn es darum geht, Gefühle zu äußern oder eine spitze Bemerkung loszulassen, wenn ihnen etwas nicht passt.
"Dann hat er über mein ganzes Schulgelände geschrien, dass er mich total lieb hat und dass ich einen schönen Schultag haben soll."
Vor allem Vivis Papa ist gut darin, peinliche Situationen zu kreiern, bei denen Vivi vor Scham nur noch im Boden versinken möchte. Vivis Vater ist bei der Freiwilligen Feuerwehr, deswegen fährt er ein Auto mit einer Lautsprecheranlage, das auch für Einsätze genutzt werden kann. Einmal als er sie bei der Schule absetzt, kann er es sich nicht verkneifen, Vivi per Lautsprecheranlage zu sagen, dass er sie lieb hat und ihr einen schönen Tag in der Schule wünscht, erzählt Vivi.
"Ich glaube, er hat da schon viel Spaß daran, mich zu ärgern in so einer Situation. Aber das ist dann auch nichts, worauf ich sauer bin."
Alle Mitschüler auf dem Schulhof hören das. Für Vivi ist das die wahrscheinlich peinlichste Aktion, die ihre Vater je gebracht hat. Denn eine öffentliche Liebesbekundung ist wohl das Letzte, was man als Teenie oder Twen von den Eltern hören möchte.
Scherzhafte Karriereempfehlung für einen Optiker
Aber auch Vivis Mutter gelingt es, ihre Tochter mit ihren Äußerungen vor Scham erröten zu lassen. Vivi erinnert sich an eine Situation, in der sie mit ihrer Mutter ein Brillengeschäft betreten hat. Der Optiker hatte anscheinend nicht gehört, dass Kundinnen in den Laden gekommen waren. Und so mussten die beiden eine ganze Weile warten, bis er aus dem hinteren Raum kam und die beiden entdeckte. Vivis Mama erlaubte sich einen Scherz und schlug dem Optiker vor, auf Hörgeräte umzusatteln. Vivi kann sich gut daran erinnern, wie peinlich ihr dieser Spruch der Mutter war.
Wenn die Peinlichkeit schon fast Schmerzen bereitet
Annalina Mayer hat zum Thema Fremdscham an der Universität zu Lübeck geforscht. In einer Studie wurden Probanden und Probandinnen Skizzen von peinlichen Situationen gezeigt. Die Versuchspersonen wurden dabei per Magnetresonanztomografie radiologisch untersucht. Dadurch konnten Annalina Mayer und die anderen Studienautor*innen feststellen, welche kognitiven Prozesse sich in unserem Hirn abspielen, wenn wir uns fremdschämen.
"Die Probanden haben Skizzen gesehen von potenziell peinlichen Situationen. Die schlimmste Situation für mich persönlich: Eine Fußgängerin geht eine Straße entlang. Ihr Rock hat sich in ihrem Rucksack verfangen und man kann ihre Unterwäsche sehen."
Die Versuchspersonen sollten sich diese Bilder ansehen und dabei einschätzen, wie sehr sie sich fremdschämen. Währenddessen wurde gleichzeitig die Gehirnaktivität untersucht. Das Ergebnis, sagt Annalina Mayer, sei für die Studienautor*innen relativ erstaunlich gewesen. Denn der Anstieg von Aktivität sei vor allem in den Gehirnregionen signifikant gewesen, die auch aktiviert werden, wenn sich jemand verletzt, indem er oder sie sich zum Beispiel in den Finger schneidet. Sich fremdzuschämen, korrespondiert also mit einem gewissen Schmerz, den wir bei Verletzungen empfinden, sagt die Wissenschaftlerin.
"Also Fremdscham ist ganz genau genommen eher 'Fremd-Peinlichkeit'. Von Peinlichkeit sprechen wir dann, wenn das alltägliche Missgeschicke sind, die weniger mit moralischem Verhalten zu tun haben."
In der Forschung ergebe es durchaus Sinn, Scham oder Fremdscham von Peinlichkeit zu unterscheiden, sagt Annalina Mayer. Bei Peinlichkeit geht es eher um Alltagssituation, dass wir zum Beispiel eine Treppenstufe verfehlen, stolpern und fallen. Dabei mache es für das Empfinden von Peinlichkeit keinen Unterschied, ob ich mich jetzt selber daneben verhalte oder ob ich jemanden sehe, der sich daneben verhält, sagt Annalina Mayer. Das fühle sich erst mal relativ gleich an. Scham geht mehr in die Richtung, dass wir uns als Person infragestellen. dass wir uns beispielsweise als schlechten Menschen empfinden, sagt sie.
"Das heißt wenn ich mich schäme, dann fühle ich mich rundherum wie ein schlechter Mensch. Das hat dann grundsätzlich etwas mit dem Selbstkonzept oder dem Selbstwertgefühl zu tun."
Das Schamgefühl können wir auch trainieren, aber das ergebe nur in Fällen von extremem Schamgefühl Sinn, sagt Annalina Mayer. Denn grundsätzlich sei es gut und normal, dass jedes Individuum ein unterschiedlich ausgeprägtes Schamgefühl habe, sagt die Wissenschaftlerin. Nur dann, wenn wir uns so extrem schämen, sodass es unsere Lebensqualität beeinträchtigt, könnte man in Betracht ziehen, das Schamgefühl psychologisch zu trainieren und zu regulieren.
Meldet euch!
Ihr könnt das Team von Facts & Feelings über WhatsApp erreichen.
Uns interessiert: Was beschäftigt euch? Habt ihr ein Thema, über das wir unbedingt in der Sendung und im Podcast sprechen sollen?
Schickt uns eine Sprachnachricht oder schreibt uns per 0160-91360852 oder an factsundfeelings@deutschlandradio.de.
Wichtig: Wenn ihr diese Nummer speichert und uns eine Nachricht schickt, akzeptiert ihr unsere Regeln zum Datenschutz und bei WhatsApp die Datenschutzrichtlinien von WhatsApp.
- "Mein Papa bringt ständig peinliche Aktionen" - Gespräch mit Vivi
- Was passiert im Kopf, wenn wir uns fremdschämen? - Gespräch mit Annalina Mayer