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Vanessa liebt ihren Job. Sie arbeitet in der Pflege, merkt aber, wie der Dauerstress sie verändert: Sie ist schneller genervt, ungeduldig und gereizt. Warum passiert das? Was hilft uns, besser mit Stress umzugehen – und wann wird er zum Problem?

Vanessa arbeitet seit vier Jahren als Gesundheits- und Krankenpflegerin im Schichtsystem. Dabei wird es für sie oft stressig. Sie erzählt, dass in solchen Situationen richtiges Chaos in ihrem Kopf herrscht und sie keinen klaren Gedanken mehr fassen kann: "All meine To-Dos, all meine Aufgaben, die schwirren mir dann im Kopf umher, aber ich kriege die dann nicht mehr richtig gut strukturiert und priorisiert. Ich mache dann alles so ein bisschen durcheinander."

Hinzu kommen bei ihr auch körperliche Symptome wie Herzrasen und ein flaues Gefühl im Magen. Vanessa sagt, dass sie sich dann richtig unter Strom fühlt.

"Es gibt so viele Aufgaben, die am besten alle gleichzeitig laufen müssten, man es aber einfach nicht gleichzeitig hinkriegt."
Vanessa, arbeitet in der Pflege und ist manchmal nicht sie selbst, wenn sie gestresst ist

Wenn wir uns unter Stress nicht mehr wiedererkennen

Vanessa erzählt, dass sich das auch im Umgang mit Kolleg*innen und Patient*innen zeigt. Sie sagt, dass sie dann oft nicht mehr so geduldig sein kann: "Wenn ich weiß, dass der Toilettengang länger dauert, weil die Person Hilfe braucht, stresst mich das innerlich so, dass ich denke: 'Komm, mach jetzt mal ein bisschen schneller, weil ich die Zeit dafür nicht habe.'"

Der Ton wird dann auch schon mal rauer und es rutschen gelegentlich Kraftausdrücke raus, sagt Vanessa. Sie beleidigt niemanden, flucht aber manchmal vor sich hin.

Wir reagieren unterschiedlich auf Stress

Es gibt verschiedene Reaktionen auf Stress, erklärt der Neuromediziner Volker Busch. Er beschreibt diese vier Ebenen:

  • Körperliche Ebene: Personen leiden zum Beispiel unter Kopfschmerzen, Reizdarmbeschwerden, Appetitlosigkeit oder Herz-Rhythmus-Störungen.
  • Geistige Ebene: Personen sind nicht mehr so motiviert, werden unpünktlicher oder können sich nicht mehr so gut konzentrieren und fangen an zu prokrastinieren.
  • Emotionale Ebene: Personen sind näher am Wasser gebaut, neigen zu mehr Ängsten oder werden schneller wütend.
  • Verhaltensebene: Personen ziehen sich zurück und haben etwa weniger Lust, sich mit Freund*innen zu treffen oder das Interesse an Hobbys geht zurück.

In dieser Folge von Facts & Feelings sprechen wir vor allem über die emotionale Ebene. Es geht darum, warum wir uns unter Stress anders verhalten, als wir eigentlich wollen – und was die Gründe dafür sind.

Hilal El Abed ist Psychologe mit dem Schwerpunkt Neuropsychologie und erklärt, dass in stressigen Situationen vor allem die Amygdala besonders aktiv ist. Sie gilt als das Schaltzentrum im Gehirn und spielt eine zentrale Rolle bei der Emotionsverarbeitung.

"Wenn wir über einen längeren Zeitraum gestresst sind, dann reguliert die Amygdala negative Emotionen etwas schlechter – und deswegen reagieren wir dann auch reizbarer."
Hilal El Abed, Psychologe mit Schwerpunkt Neuropsychologie

Entscheidend ist aber noch ein weiteres Areal im Gehirn: der präfrontale Cortex. "Der ist für logisches Denken zuständig und für alles, was wir so an Emotionen haben, damit der das alles logisch reguliert und wir in bestimmten Situationen sachlich reagieren", erläutert Hilal El Abed.

Sprich: Damit wir nicht "direkt an die Decke gehen", sondern zunächst unseren Verstand einsetzen. Der präfrontale Cortex wird in stressigen Situationen allerdings sehr unterdrückt, erklärt der Psychologe. "Das heißt, die Amygdala kann nicht gut von diesem Areal reguliert werden."

Was bei Stress im Gehirn passiert

Auch der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle. Diese Gehirnregion ist wesentlich für Aufmerksamkeit und Gedächtnis. "Wir wissen, dass der Hippocampus in Stresssituationen an Volumen verliert. Das heißt, er ist dann nicht mehr in der Lage, neue Synapsen und Verbindungen zu bilden." Die Folge: Nach einer gewissen Zeit können wir uns schlechter konzentrieren.

All die Prozesse, die bei Stress im Gehirn ablaufen, führen dazu, dass wir in belastenden Situationen nicht mehr richtig funktionieren – und sich die aufgestauten Emotionen irgendwann entladen.

"Wenn ich in einer stressigen Situation bleibe und nichts dagegen unternehme, dann entladen sich die Emotionen häufig in zwischenmenschlichen Beziehungen."
Hilal El Abed, Psychologe mit Schwerpunkt Neuropsychologie

Für Vanessa ist sehr frustrierend, dass sie sich unter Stress anders verhält. "Weil man ja selber weiß, wie man vom Charakter her ist und professionell arbeiten möchte", sagt sie. "Und wenn man das nicht macht, fühlt sich das für mich nach Versagen an, dass ich das nicht hinkriege, wie ich mir das vorstelle und wie es sich meine Patient*innen und Kolleg*innen wünschen."

Vanessa isst ungesünder bei Stress – macht aber auch mehr Sport

Wenn Vanessa im Job unter Stress steht, greift sie häufiger zu ungesunden Snacks – etwa Schokolade zwischendurch, um schnell Energie zu bekommen und weitermachen zu können.

Weil sie weiß, dass das langfristig keine gute Strategie ist, achtet sie darauf, als Ausgleich mehr Sport zu treiben. Damit sie für den nächsten Dienst gut gewappnet ist.

Wann Stress uns hilft – und wann nicht mehr

Stress muss nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein, sagt Hilal El Abed. In einer Klausurphase zum Beispiel zeige Stress, wie wichtig die Situation ist, und fordert unsere volle Aufmerksamkeit. Allerdings, so der Psychologe, sei diese Phase auch irgendwann vorbei – und der Körper könne sich anschließend wieder regulieren.

Er erklärt außerdem, dass jeder Mensch ein unterschiedliches Stressempfinden hat. Das liege an verschiedenen Faktoren – etwa an Kindheitserfahrungen oder genetischen Einflüssen. Und: Wenn Menschen in einem Job arbeiten, den sie gar nicht mögen, kann das Stressgefühl schneller entstehen.

Anzeichen für chronischen Stress

Wenn Stress über einen längeren Zeitraum anhält, sollten wir auf bestimmte Warnsignale achten, die darauf hindeuten, dass wir unter chronischem Stress leiden:

  • wir ziehen uns sozial zurück
  • wir schlafen schlechter
  • wir essen unregelmäßiger
  • wir spüren eine innere Anspannung
  • wir sind reizbarer
  • wir grübeln viel
  • wir haben Entscheidungs- und Konzentrationsprobleme
  • wir rauchen mehr
  • wir trinken mehr Alkohol

Wer ständig gestresst ist, sollte darüber sprechen, rät Hilal El Abed. "Denn andere Menschen können nicht wissen, was los ist. Wenn wir den Kontext erklären – warum ich mich gerade so verhalte –, dann nehmen wir auch den Druck raus."

"Es wird problematisch, wenn wir nicht darüber reden und versuchen, alles mit uns selbst auszumachen."
Hilal El Abed, Psychologe mit Schwerpunkt Neuropsychologie

Was wir gegen Stress tun können

Für akute Stressphasen bei der Arbeit empfiehlt der Psychologe die sogenannte "Double-Inhale-Exhale"-Atemübung. Dabei atmen wir zunächst tief durch die Nase ein, gefolgt von einem zweiten, kleineren Atemzug – ebenfalls durch die Nase. Anschließend atmen wir langsam und vollständig durch den Mund aus.

Person von hinten mit langen Haaren am Küchenschreibtisch
© IMAGO / Pond5 Images
Die "Double-Inhale-Exhale"-Atemübung lässt sich auch in den Alltag integrieren

"Das ist nachweislich sehr gut für unseren Parasympathikus, also für den Teil des Nervensystems, der für Entspannung zuständig ist. Und wenn man das ein paar Mal macht, wird man merken, dass man etwas zur Ruhe kommt", erläutert Hilal El Abed.

Auch Muskelübungen können Stress mindern

Auch Progressive Muskelentspannung (PMR) ist eine Möglichkeit, Stress zu reduzieren. "Wir können uns hinsetzen und uns fragen: Wie fühlt sich gerade der Boden unter meinen Füßen an. Und dann etwas höher wandern: zu den Knien, zu der Hüfte, zum Rücken", so der Psychologe. "Das macht man ganz langsam und dann merkt man, dass man für einen Moment raus aus dieser stressigen Situation ist, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas komplett anderes richten."

Wann professionelle Hilfe nötig ist

Solche Übungen können dem Psychologen zufolge sowohl kurzfristig als auch langfristig helfen. Auch Sport ist eine wirksame Methode, um Stress abzubauen. Zudem sollten wir auf ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung achten. Es kann auch hilfreich sein, den Alltag so umzugestalten, dass wir weniger Stress empfinden.

Wenn all diese Maßnahmen keine Besserung bringen, sollten wir uns professionelle Hilfe suchen, empfiehlt Hilal El Abed. Denn chronischer Stress kann auch psychische Erkrankungen auslösen. Ein erster Schritt kann sein, sich zunächst an den Hausarzt oder die Hausärztin zu wenden. Hier findest du außerdem eine Liste mit Hilfsangeboten bei psychischen Problemen.

Vanessa hat für sich entschieden, ihren aktuellen Job zu kündigen und den Arbeitgeber zu wechseln. Sie erhofft sich dadurch eine neue Perspektive auf ihren Beruf und eine andere Form der Motivation. Zur Frage, wann wir kündigen sollten, haben wir eine ganze Folge Facts & Feelings aufgenommen.

Hinweis: Auf dem Bild oben ist nicht Vanessa zu sehen.

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Shownotes
Plötzlich aggro
Wie bleiben wir unter Stress wir selbst?
vom 26. September 2025
Gesprächspartnerin: 
Vanessa, arbeitet in der Pflege und ist manchmal nicht sie selbst, wenn sie gestresst ist
Gesprächspartner: 
Hilal El Abed, Psychologe mit Schwerpunkt Neuropsychologie und Verhaltenstherapie
Gesprächspartner: 
Volker Busch, Neuromediziner und -wissenschaftler
Autorin und Host: 
Caro Nieder
Redaktion: 
Lena Mempel, Jana Niehof, Ivy Nortey
Produktion: 
Jan Morgenstern