Wir leben in einem "postfaktischen" Zeitalter, heißt es oft. Stimmt das? Nein, sagt der Philosoph Frieder Vogelmann und warnt vor dieser falschen Diagnose, die der Wissenschaft schaden könne. In seinem Vortrag erklärt er, warum.
Dass wir in "postfaktischen" Zeiten leben, gilt für viele spätestens seit 2016 als abgemacht. Wir erinnern uns: Trump wird nach einem ziemlich dreckigen Wahlkampf US-Präsident, die Brit*innen stimmen nach langen und hitzigen Diskussionen für den Brexit, in Deutschland fährt die AfD bei Landtagswahlen Erfolge ein.
Postfaktisch als (falsche) Diagnose eines politischen Wandels
Angela Merkel nutzt damals den Begriff erstmals in einer Rede, die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt "postfaktisch" zum Wort des Jahres 2016, und die Redaktion des Oxford Dictionaries "post-truth" zum internationalen Wort des Jahres.
"Welche Art von politischer Unwahrheit meint 'postfaktisch'? Ist das eine neue Form von Unwahrheit? (…) Und ab wann trat eigentlich diese neue Form von Unwahrheit auf?"
Es hatte sich scheinbar etwas verändert - Emotionen wurden im politischen und gesellschaftliche Diskurs plötzlich wichtiger als Fakten, so die Diagnose. Aber ist das so? Der Philosoph Frieder Vogelmann zweifelt es an.
"Es wäre verfrüht zu sagen, diese Wissenschaftsverachtung zeigt uns, dass wir in einem neuen, sogenannten 'postfaktischen Zeitalter' leben."
In seinem Vortrag erklärt er, warum er die Diagnose für falsch hält – und auch für gefährlich. Denn eine falsche Diagnose könne zu falschen Reaktionen führen. Und außerdem werde so ein problematisches, weil idealisiertes Bild einer einheitlichen Wissenschaft vermittelt, was wiederum Misstrauen gegen Wissenschaften – er benutzt absichtlich die Mehrzahl – fördern könne.
"Die Gefahr ist, dass wenn man von einer falschen Diagnose ausgeht, man ihr auch eine falsche Reaktion entgegensetzt."
Frieder Vogelmann ist Professor für Epistemology & Theory of Science am University College Freiburg und der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Unter anderem arbeitet er zur Beziehung zwischen (Un)Wahrheit und Demokratie und zum Bild wissenschaftlicher Praktiken.
Seinen Vortrag "Wissenschaft als Mittel gegen das 'postfaktische Zeitalter'?" hat er am 25. Mai 2023 im Rahmen der Vortragsreihe "Colloqium Fundamentale" des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) gehalten, das zu diesem Zeitpunkt, im Sommersemester 2023, unter dem Titel "Was ist Wahrheit? Annäherung an ein umstrittenes Konzept" stand.