Unsere Gesellschaft tendiert dazu, extrovertierte Charakterzüge als vorteilhafter zu beurteilen als introvertierte. Wissenschaftlerin Jule Specht sagt: Die Eigenschaft Introversion wird noch ziemlich oft missverstanden.

Gerne trennen wir Menschen in den Charakterzug "introvertiert" und "extrovertiert"* auf - was dann oft so viel heißt wie: der eine Mensch kommt gut in Gruppen klar, der andere ist lieber allein. Jule Specht, Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt Universität Berlin, sagt: So einfach ist das nicht.

Zunächst hat die Wissenschaft ein deutlich vielfältigeres Verständnis von Introversion und Extraversion: Extravertierte Personen würden sich zum Beispiel durch Herzlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Geselligkeit auszeichnen.

Introvertierte Menschen dagegen würden selten gesellige Situationen aufsuchen, sich eher anderen unterordnen und lieber bei sich zuhause Zeit verbringen.

Introvertierte und Extrovertierte unterscheiden sich durch ihre Geselligkeit

Der Satz "Sei doch nicht so schüchtern!", mit dem Introvertierte oft konfrontiert werden, ist laut Jule Specht falsch: Introvertierte Menschen entscheiden sich quasi gezielt dafür, nicht bei jeder Party mitzutanzen, weil sie lieber alleine Zeit verbringen. Gleichzeitig können sie auch durchaus selbstbewusst sein. Schüchterne Personen dagegen würden vielleicht sogar gerne im Mittelpunkt stehen wollen - sie trauen sich aber nicht.

"Schüchternheit hat auch etwas damit zu tun, wie selbstbewusst jemand ist."
Jule Specht, Persönlichkeitspsychologin

Wenn jemand introvertiert ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dieser Mensch sich immer entsprechend benimmt. "Das heißt bloß, dass wenn ich die Wahl habe, lieber für mich allein bin", betont Jule Specht. "Oder dass ich in einer sehr sozialen Situation danach den Ausgleich suche."

Vorteile von introvertierten Persönlichkeitszügen

Introversion bringt auch Vorteile, sagt die Wissenschaftlerin: Introvertierte Menschen seien zum Beispiel Personen, die sich nicht in jeder Situation durchsetzen müssten. Das ist etwa im Job nicht die schlechteste Charaktereigenschaft.

"Wir können ja froh sein, dass wir nicht alle gleich sind", merkt Jule Specht an. "Wenn wir nur noch irgendwelche aktivitätshungrigen, superfröhlichen Personen haben, dann wird es vielleicht auch anstrengend."

"Introversion ist kein Fähigkeitsmakel, sondern eine Präferenz, wie ich eine Situation gestalte."
Jule Specht, Persönlichkeitspsychologin

Trotzdem glaubt Jule Specht, dass unsere Gesellschaft es introvertierten Menschen nicht unbedingt leicht macht: "Es gib ein bisschen das Stereotyp: Alle sollten extravertiert sein. Oder vielleicht fühlen auch viele den Druck, extravertiert sein zu müssen."

Zwar könne man nicht wissenschaftlich beweisen, dass es eine Persönlichkeit gibt, die es einfacher hat in unserer Gesellschaft, so Jule Specht. Wenn man Introvertierte dazu befragen würde, käme auch häufig die Rückmeldung, dass sie sich ein Leben als extravertierter Mensch einfacher vorstellen.

Nicht jede Gesellschaft ist extravertiert ausgerichtet

Die sozialen Normen in Gesellschaften wie Japan und Finnland sind dagegen deutlich freundlicher zu Introvertierten: In Japan ist es zum Beispiel ganz normal, während eines Gesprächs etwas länger zu schweigen.

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* Im Text verwenden wir zwei Begriffsvarianten: "extravertiert" und "extrovertiert". Beide sind richtig. "Extrovertiert" scheint geläufiger zu sein, weshalb wir uns für die Verwendung dieser Variante entschieden haben. Unsere Gesprächspartnerin spricht jedoch von "extravertiert" und "Extraversion".

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Shownotes
Persönlichkeitspsychologin Jule Specht
"Introversion ist kein Fähigkeitsmakel, sondern eine Präferenz"
vom 25. September 2019
Moderator: 
Utz Dräger
Gesprächspartnerin: 
Prof. Dr. Jule Specht, Persönlichkeitspsychologin an der Humboldt Universität Berlin